Wofür eine Staatengründung alles gut ist. Sogar für das Lesen und Schreiben. Die erste Große Nationalversammlung der Türkei ist für Kemal Atatürk auch Ausgangspunkt für eine große Schreibreform, nach der gilt: Man schreibt, wie man spricht. Vieles könnte so einfach sein. Autorin: Yvonne Maier
Endlich unabhängig! Endlich nicht mehr Osmanisches Reich, sondern: Türkei. Keine Fremdherrschaft mehr, Orientierung zum Westen und eine Große Nationalversammlung, legitimiert durch echte Wahlen im Jahr davor.
Der 23. April 1920 gehört zu den stolzesten Tagen der Türken und der stolzeste unter ihnen war damals sicher Staatsgründer und Unabhängigkeitskämpfer Mustafa Kemal Atatürk.
Neue Buchstaben für ein neues Land
Und was braucht so ein neues Land auch? Ganz klar - neue Buchstaben!
Denn im Osmanischen Reich wurden arabische Schriftzeichen verwendet - für Atatürk ein historisch gewachsener Irrtum, denn das Arabische verfügt nur über drei Vokalzeichen. Doch das Türkische ist sehr reich an Vokalen - Umlaute mitgerechnet bräuchte diese Sprache allein dafür acht Zeichen! Arabische Buchstaben waren also die denkbar schlechteste Variante, um türkisch zu schreiben. Ein ständiges Ratespiel war angesagt: Heißt es jetzt, musste oder müsste? Wer den Zusammenhang nicht kannte, der konnte beim Lesen eines Schriftstücks ganz schön danebengreifen. Doch so einfach reformiert man keine Sprache und Schrift, wenn das eigene Land unter Fremdherrschaft lebt, die ein Mischmasch aus Seldschukisch, Arabisch und Türkisch spricht und schreibt.
Erst nach den Befreiungskriegen war das möglich.
1923 wurde die Republik ausgerufen und Mustafa Kemal Atatürk machte sich ans Werk … inklusive seiner Pläne für eine neue Schrift. Er rief eine Kommission ins Leben, die ihm zunächst seinen wichtigsten Wunsch erfüllte: Türkisch wurde ab jetzt in lateinischen Buchstaben geschrieben. Gut für viele Vokale und Umlaute und ein politisches Zeichen für die Orientierung zum Westen. Für urtürkische Laute wie “Tsche“ oder „Sch“ wurden sogar kurzerhand neue Zeichen erfunden.
Als zweites interessierte die Sprachwissenschaftler, was für Probleme andere Nationen mit ihrer Rechtschreibung hatten. Dumme Fehler der Nachbarn muss man bei einer neuen Rechtschreibung ja nicht unbedingt kopieren!
Man schreibt, wie man spricht
Häufiges Problem: Man schreibt nicht, wie man spricht. Tausende deutsche oder englische Schulkinder können da ihr Leid klagen. Türkische Kinder hingegen nicht. Die Kommission legte nämlich fest: Es wird genauso geschrieben, wie gesprochen. Und das gilt auch für Fremdwörter! Renaissance - also das französischen Wort für die Zeitepoche des 15. und 16. Jahrhunderts - wird im türkischen R-Ö-N-E-S-A-N-S geschrieben. Da kannten die türkischen Rechtschreib-Erfinder keine Hemmungen. Bis heute wird das so praktiziert - oder es werden einfach türkische Worte für neue Entwicklungen erfunden, wie z.B. Computer - der heißt auf türkisch „Datenzähler“. Und der Scanner ist ein “Dokumentenkämmer“, weil das Licht wie ein Kamm über das Papier gezogen wird.
Übrigens wurde die neue Rechtschreibung innerhalb eines halben Jahres in der noch jungen Türkei eingeführt. Bücher, Gesetzestexte oder Straßenschilder wurden nach und nach ausgetauscht. Und das ganze Volk musste die neuen Buchstaben büffeln. Zum Glück war zu diesem Zeitpunkt, also 1928,
die Alphabetisierungsrate sowieso nicht so hoch, umlernen musste vor allem die gebildete Oberschicht. Tageszeitungen druckten täglich neue Lektionen, viele Männer lernten die lateinischen Buchstaben während des Militärdienstes. Übrigens haben die Türken auch dem Rest der Welt damit einen Gefallen getan. Denn jeder, der Türkisch als Fremdsprache lernt, braucht zumindest keine Angst vor Diktaten zu haben. Was es alles für Vorteile bringt, wenn man eine Große Nationalversammlung einberuft! Wir Deutschen werden wahrscheinlich noch eine Menge Rechtschreibreformen brauchen, um so weit zu sein, wie die Türken 1928.