Hallo Thomas!
Schon ganz lange habe ich dir nicht geschrieben. Die Zeit ist heutzutage so schnell, dass ich immer erst am Abend an dich denke und mich erinnere, dass ich dir schreiben wollte. Aber heute ist es noch früh am Nachmittag und ich habe Zeit gefunden, dir zu schreiben.
In der letzten Zeit hat sich bei mir so eine Art Routine abgespielt. Morgens die Familie, dann die Arbeit in der Redaktion und im Büro, unzählige Telefonate mit den Umweltaktivisten, verschiedene Treffen und Demonstrationen und Anfertigungen von Plakaten. Manchmal habe ich gedacht, ich funktioniere nur noch. Da kam auch schon mal der Gedanke, dass es so nicht weitergehen kann. Das ist nicht das Leben, das ich mir gewünscht habe. Meine Tochter Natalie hat mich heute eines Besseren belehrt.
Natalie ist gerade auf der Suche nach einem geeigneten Praktikumsplatz. Es war mir gar nicht mehr bewusst, dass so etwas Einfaches so wichtig sein kann. Da habe ich mir innerlich gesagt: „Heidi! Stopp! Hör mal wieder den anderen Menschen zu!“
Meine Tochter brauchte Hilfe bei der Gestaltung eines Bewerbungsanschreibens. Weißt du Thomas, da habe ich mal gesehen, wie wir schon total selbstverständlich die Wörter wie „Flexibilität“, „Zuverlässigkeit“, „Lernbereitschaft“, „Belastbarkeit“ benutzen, ohne uns darüber Gedanken zu machen, was sich eigentlich hinter diesen Wörtern verbirgt. Sie sind mittlerweile zu Floskeln geworden, die den Lesenden vielleicht sogar abschrecken und langweilen. In einem Anschreiben, das die Visitenkarte eines Bewerbers ist, muss sich der Bewerber auch wiederspiegeln. Ich finde, da müssen die Eigenschaften der Person in den Vordergrund geschoben werden.
Es war für uns beide gar nicht einfach, von diesen fertigen Strukturen wegzukommen. Letztendlich haben wir aber ein gutes Anschreiben hinbekommen. Natalie ist ein sehr interessierter junger Mensch, der offen in die Welt schaut. Sie engagiert sich für Tierschutz und ist wissbegierig. Sie scheut keine Herausforderung und ist auch bereit, schwer körperlich zu arbeiten. Hauptsache, es ist interessant und für andere von Nutzen.
Ich hoffe, sie muss nicht so viele Enttäuschungen hinnehmen. Als Mutter möchte ich sie gern beschützen, aber du kennst das ja auch. Ich wünsche mir für meine Kinder einen guten Start ins Leben. Ich hoffe auch, mit meinen Taten ihnen ein gutes Vorbild zu sein, weiß aber auch, dass sie ihre eigenen Erfahrungen sammeln müssen.
Ich hoffe bald von dir wieder zu hören. Schreib mir, wie es deiner Familie und dir geht, was dich bewegt.
Bis bald!