Die ersten Schneeflocken fielen vom Himmel und bedeckten das Land mit einem weißen Schleier. Greta lief über das verschneite Kopfsteinpflaster des Marktplatzes und versuchte die Flocken mit der Zunge zu fangen. "Schau hier", rief sie ihrem Bruder Kilian zu, als gerade eine Schneeflocke auf ihrer Zunge schmolz.
Kilian lief auf sie zu: "Dann schau du dir das hier an!" und im nächsten Moment traf ein runder Schneeball Gretas blonden Haare. Empört griff sie in den Schnee und formte eine Kugel, die sie nach Kilian warf - daneben. "Nicht getroffen!", ihr Bruder streckte die Zunge raus und versteckte sich hinter einer alten Pferdekutsche. Gerade als Greta zum erneuten Wurf ausholte, packte eine Hand grob ihren Arm. "Das ist kein Kinderspielplatz", raunte eine ihr bekannte, rauchig tiefe Stimme. Der alte Schmied stand hinter ihr und starrte die Kinder finster an. Greta wand sich aus seinem Griff und lief lachend in Richtung der alten Ladengasse, in der die ganze Nacht über die Lichter der herrlich verzierten Schaufenster leuchteten. Greta liebte die Straße über alles. Kilian folgte ihr grinsend, denn auch er mochte die Ladengasse gerne. Die Kinder betraten die hell erleuchtete Straße und gingen fröhlich an den Schaufenstern vorbei. Mit glänzenden Augen blieben sie immer wieder stehen, um kleinen Eisenbahnen beim Fahren zuzusehen oder sich in die Knopfaugen weicher Teddybären zu verlieben.
Sie wussten, dass sie sich so was niemals leisten würden können, doch sie hatten das Träumen nicht verlernt.
Auf einmal sah Greta eine schmale Seitenstraße, die ihr noch nie aufgefallen war. Sie nahm Kilian bei der Hand - er zitterte - und führte ihn in die Gasse. Drei Meter weiter warf ein Schaufenster große Schatten auf die Straße. Greta trat näher - Kilian stand neben ihr. Vor ihnen befand sich das schönste Schaufenster, das ihre Augen je erblickt hatten. Eine liebevoll dekorierte Winterlandschaft mit lauter Schneekugeln verziert. Kleine und große, alte und neue, welche mit Glitzer und Engelchen, aber auch ganz schlichte mit winzigen Tannenbäumchen. Greta und Kilian drückten ihre Gesichter ganz nah an die eisige Glasscheibe. Ihr kalter Atem beschlug das Glas und sie wischten immer wieder mit den löchrigen Ärmeln über die Scheibe, um alles sehen zu können. Hinten im Laden konnte Greta einen alten Mann ausmachen. Er sah die Kinder freundlich an - lange. Nach einiger Zeit waren ihre Gesichter frostig kalt und sie wollten sich gerade zurückziehen, als der alte Mann sie hereinwinkte. Die Kinder gingen ehrfürchtig auf die Ladentür zu und betraten das zauberhafte Geschäft. Ihr ärmliches Aussehen passte kaum in diesen prachtvollen Raum und doch fühlten sie sich sehr wohl. Vielleicht lag es an der Wärme, vielleicht aber auch an der harmonischen Stille, die im Raum herrschte.
Der alte Mann trat lächelnd auf die Kinder zu: "Meine Kugeln scheinen euch zu gefallen." Seine Stimme klang sehr freundlich. Greta und Kilian nickten eifrig. "Oh ja, sie sind wirklich sehr schön!" Greta stockte, doch da ergriff der Mann wieder das Wort: "Und deshalb möchte ich euch ein kleines Geschenk machen. Schließlich ist morgen Heiligabend." Da zog er aus seiner Tasche eine kleine Schneekugel hervor. In der Kugel tobte ein Schneesturm inmitten der Wohnstube einer kleinen Familie.
Der Tannenbaum stand in der Mitte des Raumes und der Vater hielt sein Kind hoch, damit es dem Baum den Stern aufsetzten konnte. Die Mutter saß auf dem Boden mit ihrer Tochter und schaute lächelnd in die großen Augen einer winzigen Puppe.
Die Kugel zeigte ein Fest, so wie Greta und Kilian es sich immer gewünscht, doch nie bekommen hatten. "Vielen Dank." Greta nahm das Geschenk behutsam in die Hände und guckte sich alles genau an - auch Kilian trat näher um besser sehen zu können.
Als sie ihren Blick von der Wohnstube lösten, war der alte Mann verschwunden. Greta zuckte mit den Schultern: "Lass uns gehen Kilian, Mama und Papa warten sicher schon." Und die Kinder machten sich auf den Weg nach Hause.
Als sie die kleine Hütte betraten, warteten ihre Eltern schon auf sie. Ihre Mutter umarmte sie zur Begrüßung und bat sie in die kleine Wohnstube. Da holte Greta die Kugel hervor und stellte sie auf den kleinen Holztisch. Auch ihre Eltern waren beim Anblick der glücklichen Familie verzaubert. So saß die Familie bis spät in die Nacht an dem Tisch und guckte in die Schneekugel. Dann gingen sie alle zu Bett.
Am nächsten Morgen wachte Greta früh auf, denn es war Weihnachten. Der Heilige Abend, auf den sich alle freuten. Sie lief in die Essstube und blieb verblüfft stehen. In der Mitte des Zimmers stand eine große, grüne Tanne. Unter dem Baum lagen Geschenke und ein Karton mit Weihnachtsbaumkugeln und einem Stern. "Mama, Papa, Kilian!" Vor Freude jauchzend weckte sie ihre Familie. Als sie die Wohnstube betraten, waren alle verblüfft und sehr glücklich.
Zusammen begannen sie den Baum zu schmücken. Am Ende durfte Kilian mit Papas Hilfe den Stern auf die Spitze setzten.
Es war ein wunderschöner Nachmittag. Am Abend ging die Familie zur Weihnachtsmesse und dankte für das Wunder.
Danach packten alle ihre Geschenke aus. Eine kleine, hübsche Puppe für Greta, eine liebevoll gearbeitete Eisenbahn für Kilian, eine Pfeife für Papa, eine Halskette für Mama und für jeden einen dicken Pullover. Die Augen der Eltern glänzten vor Rührung.
Die Schneekugel stand noch immer auf dem Tisch und zur gleichen Zeit verließ ein alter Mann lächelnd die Stadt.