Einige Jahre später baten Ruth und ihr Gatte, Heinrich von Holten, Großmama Ilse, ihr Töchterchen Irma auf unbestimmte Zeit in ihr Haus zu nehmen. Durch ihren Beruf gezwungen, waren sie viel auf Reisen und konnten nie lange an einem Ort verweilen. Dies unstäte Leben mußte die Erziehung des heranwachsenden Mädchens ungünstig beeinflussen. Mit Gustav war das etwas anderes; der Knabe spielte bereits so meisterhaft Klavier, daß er seine Eltern nicht nur begleitete, sondern sich schon selber öffentlich hören ließ. Irma aber war nicht künstlerisch veranlagt, für sie paßte dies ruhelose Leben nicht. Mit welcher Freude Frau Ilse die Bitte ihrer Tochter erfüllte, läßt sich denken. Sie fühlte sich oft sehr einsam, und nun, wo die hübsche, lustige Irma ihr Gesellschaft leistete, erwachte wieder viel von ihrer früheren Lebenslust.
Alle diese Ereignisse zogen an Ilses Geist vorüber, während sie in ihrem gemütlich eingerichteten Wohnzimmer saß. Sie erkannte, wie sie es eigentlich onkel Heinz verdankte, daß sie nun mit Freuden der Ankunft ihrer unbekannten Großkinder entgegensah, und sich auf die spätere Heimkehr von Fritz und Marianne aus dem fernen Lande freuen konnte; und ein Gefühl der Dankbarkeit gegen ihren alten Freund erfüllte sie. —
Unterdessen waren Professor Fuchs und Irma auf dem Bahnhof angelangt und schritten ziemlich ungeduldig auf dem überdachten Bahnsteig hin und her, um die Ankunft des Zuges zu erwarten.
„Glaubst du, daß wir sie schnell herausfinden, Onkel?“ fragte Irma.
„Aber natürlich, sie werden Lärm genug machen.“
„Ich bin so schrecklich neugierig; wenn der Zug nur erst käme, es ist nicht mehr auszuhalten!“
Ein schriller, langgezogener Pfiff in der Ferne, ein immer lauter werdendes Getöse verriet, daß die Wartezeit ein Ende hatte.
„Ruhig!“ mahnte onkel Heinz, als Irma ihn mitten ins Menschengewühl hineinziehen wollte. „Glaubst du, mir macht's Vergnügen, auf meinen schmerzenden Fuß getreten zu werden? Wir bleiben hier stehen, dicht neben dem Eingang, da müssen sie vorbeikommen, und wir können sie nicht verfehlen.“
Irma wäre lieber weitergegangen, aber sie nahm sich zusammen, reckte sich, so viel sie konnte, und bemühte sich, mit ihren scharfen Augen die Erwarteten zu entdecken.
„Ach, ich fürchte, sie sind nicht da,“ flüsterte sie enttäuscht.
„Ich glaube, du bist meine Cousine Irma von Holten,“ sagte plötzlich eine helle Stimme in reinstem Deutsch dicht neben ihr, und vor ihr standen zwei junge Mädchen mit einem Knaben von etwa zehn Jahren.
„Maud! Agnes!“ rief Irma erfreut, „seid ihr's wirklich? Ach wie schön, daß wir euch gefunden haben.“
Sie war doch etwas verlegen und warf rasch einen Seitenblick auf die Amerikaner. Die beiden Mädchen waren groß und schlank, trugen sehr einfache Reisekostüme von dunklem Stoff, gut, aber ohne jede Verzierung gearbeitet, um den Hals einen weißen Kragen mit einer hübsch geschlungenen Krawatte. Irma fand, daß sie jungenhaft aussahen, besonders Maud, deren dunkles Haar kurz geschnitten war. Beide trugen Filzhüte mit einem breiten glatten Band und einer steif aufrechtstehenden Hahnenfeder. Der Knabe sah allerliebst aus. Er war klein für sein Alter, hatte aber ein kluges, verschmitztes Gesicht. Mit seinem langen Beinkleid, seiner kurzen Jacke und hohem Hut glich er einem Herrn en miniature. Alle drei schienen ihren Handkoffer mit Vergnügen selbst zu tragen; in ihrer Kleidung wie in ihrem Äußern lag etwas höchst Korrektes, und sie sahen durchaus nicht ermüdet und abgespannt aus.
„Sie müssen onkel Heinz sein,“ sagte Maud, auf den Professor zutretend, „Vater und Mutter haben uns so viel von Ihnen erzählt, daß wir sie überall herausfinden würden.“
„Na, na, ihr Taugenichtse, eure Eltern haben mich seit zwanzig Jahren nicht gesehen, was können sie da noch von mir behalten haben?“ fragte der Professor, dessen Antlitz vor Freude strahlte.
„O,“ nahm der kleine Karl das Wort, „Sie sind gewiß nur ein bißchen weißer geworden, aber den Spitzbart und das lustige Gesicht haben Sie wohl immer gehabt.“
„Nu hör' mir einer so 'nen Junker Naseweis an, was sagst du zu so 'nem Dandy, Irma?“
Die Amerikaner waren so zutraulich und liebenswürdig, daß es Irma nach kaum fünf Minuten schien, als hätten sie sich schon seit Jahren gekannt.
An der Treppe, die vom Bahnsteig hinunterführte, bot Agnes onkel Heinz den Arm, und der kleine Junge lief voraus, öffnete die Türen des Wartesaales und sah sich sofort nach dem Wagen um. Dienstfertig riß er den Schlag auf, half den jungen Damen und onkel Heinz beim Einsteigen und kletterte, da im Innern kein Platz mehr für ihn war, auf den Bock; das alles tat er mit einer Gewandheit und Selbstverständlichkeit, als ob er zwanzig und nicht zwölf Jahre alt wäre.
„Aber wir vergessen ja das Gepäck,“ rief Irma, „wo sind eure Koffer?“
„Wir haben nichts weiter als unser Handgepäck,“ entgegnete Maud.