Mit Tränen in den Augen hatte Ruth sie oft umarmt und angefleht, sich um aller derer willen, die sie so innig liebten, doch ein wenig aufzuraffen.
„Ich kann nicht, Kind,“ lautete die traurige Antwort, „selbst wenn ich wollte. Glaube mir, das beste für mich wäre, wenn ich deinem teuren Vater bald folgen könnte.“
Mit zusammengezogenen Brauen und einem Gesicht, das sich je länger je mehr verdüsterte, bemerkte onkel Heinz, der fast täglich in dem Gontrauschen Hause weilte, diese traurige Veränderung. Anfangs hatte er das größte Verständnis für Ilse gehabt und nicht gewußt, wie zart er mit ihr umgehen sollte. Allmählich aber sah er die Sachen mit andern Augen an und beschloß einmal ein ernstes Wort zu reden.
„Wissen Sie, Frau Gontrau,“ begann er, als er mit ihr allein war, „woraus wir, meiner Ansicht nach, Trost schöpfen können, wenn wir unsre Liebsten verloren haben?“
Ilse schlug die brennenden Augenlider auf und schaute ihn fragend, mit einem Schimmer von Interesse an.
„Wenn wir in ihrem Geiste weiterleben,“ fuhr der alte Mann fort, „wenn wir genau dasselbe tun, womit wir sie glücklich machten, als sie noch bei uns weilten.“
„Vielleicht,“ versetzte Ilse mit bitterm Lächeln.
„Sie aber tun das nicht,“ fuhr onkel Heinz erbarmungslos fort. „Oder glauben Sie, der gute Gontrau würde sich darüber freuen, wenn er wüßte, daß Sie sich so gehen lassen, sich sogar gegen die Liebe Ihrer Kinder gleichgültig zeigen und auf dem besten Wege sind, Ihre Gesundheit zu zerstören und sich aufzureiben?“
„Zum Glück weiß er das nicht.“
„Sind Sie dessen ganz sicher? Und selbst wenn dem so wäre, der Gedanke, in dem Geist und Sinn unserer lieben Verstorbenen weiter zu leben, ist ein festes, köstliches Band, das uns mit ihnen verbindet. Jedenfalls finde ich Sie in Ihrem Leid ganz besonders egoistisch und undankbar.“
Ilse stand auf, ihre trüben Augen fingen an zu funkeln, etwas von ihrer alten Natur wurde wach in ihr, und sie rief entrüstet: „Wie dürfen Sie es wagen, so zu mir zu sprechen? Ich verlange nichts, als daß man mich mit meinem Schmerz allein läßt! Egoistisch, undankbar! Wie sollte ich Ursache haben, dankbar zu sein, ich, über die das größte Leid gekommen ist, das eine Frau treffen kann!“
onkel Heinz ließ sich jedoch nicht abschrecken; er war schon froh, daß er sie aus ihrer Apathie aufgerüttelt hatte, und fuhr ruhig fort:
„Egoistisch, weil Sie nur an sich denken und ganz vergessen, daß es Ihre Pflicht ist — und nichts weiter als Ihre Pflicht und Schuldigkeit — für Ihre Kinder zu leben und ihnen durch doppelte Liebe den Vater zu ersetzen. Undankbar, weil Sie all das Gute nicht erkennen, was Ihnen noch geblieben ist. Wer sind Sie denn, Frau Ilse, und auf welchen Standpunkt stellen Sie sich eigentlich, um so viel vom Leben fordern zu dürfen?“
„Ich?“ stammelte sie verständnislos.
„Ja, Sie,“ wiederholte er heftig. „Alle Segnungen, die ein Menschenleben glücklich gestalten können, sind Ihnen zu teil geworden. Sie haben eine sorgenlose Jugend genossen, waren schön und gesund, durften den Mann heiraten, den Sie unaussprechlich liebten. Ihre Kinder haben Ihnen nie eine trübe Stunde bereitet; auch an irdischen Glücksgütern fehlte es nicht. Mehr als dreißig Jahre waren Sie mit Ihrem Manne vereint und haben die denkbar größte Seligkeit erfahren.“
„Ja, aber eben gerade deshalb ist es jetzt so fürchterlich,“ schluchzte Ilse. „Gerade weil ich meinen Mann so geliebt habe, so glücklich mit ihm gewesen bin, kann ich ihn nicht entbehren, und es ist so trostlos, ohne ihn leben zu müssen. Aber davon wissen Sie nichts, das können Sie nicht verstehen.“
onkel Heinz lächelte traurig.
„Nein, das kann ich natürlich nicht verstehen; aber wissen Sie, Frau Gontrau, was ich außerdem auch nicht verstehe? Daß Sie sich niemals die Frage vorgelegt haben, in welchen Beziehungen Sie denn so viel besser, weiser und liebenswürdiger sind als andre, um so bevorzugt zu werden. Denn ich sage Ihnen, tausende schmachten nach dem Glück, das Ihnen mühelos in den Schoß gefallen ist. Tausende müssen im Leben sich begnügen, die reichbesetzte Tafel anderer zu sehen, und lernen, sich neidlos an fremdem Glück zu freuen, ohne daß ihnen von den begehrenswerten Schätzen das Geringste zu teil wird.“
Seine Stimme klang seltsam bewegt, was ihr nicht entging; und als sie durch ihre Tränen zu ihm aufschaute, sah sie, daß er ganz gerührt war. Freundlich reichte sie ihm die Hand und flüsterte:
„Sie haben Recht, ich will mich zusammennehmen.“