Am 30. September 1784 veröffentlichte Immanuel Kant seine Schrift "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?". Sie war nur zehn Seiten dünn, doch ihre Wirkung war gewaltig.
1784 war die Welt gerade noch in Ordnung für die da oben in ihrem blühenden Rokoko. Abends fuhren sie bepudert zur Mozart-Soiree, nachts lagen sie zwischen ihren Kokotten - und am Horizont wetterleuchteten derweil beunruhigende Ideen: von der Gleichheit aller Menschen, und dass jeder frei geboren sei, sogar der arbeitende Mensch.
Alles auf dem besten Weg?
1784 waren Voltaire und Rousseau schon sechs Jahre tot, Lessing drei, Diderot seit einem Jahr. Mit ihnen war das "Zeitalter der Aufklärung" angebrochen, und man hatte begonnen, Kritik zu üben am Bestehenden. Diesen Ideen hatten sich gar einige Herrscher geöffnet, so der Preußenkönig Friedrich II., bei dem angeblich jeder nach seiner Fasson selig und Zeitungen nicht zensiert werden sollten; und Kaiser Josef II. in Wien verkündete ebenfalls Religionsfreiheit und geistigen Durchzug. Alles schien auf dem besten Weg - man fragt sich, wieso es ein paar Jahre drauf zur Revolution in Frankreich und beinah auch in deutschen Landen kommen konnte.
Die Antwort ist, die "Aufklärung" galt nur für die da oben, jene drunten erfuhren davon nichts. Sie blieben unfrei, analphabetisch ihrem Elend ausgeliefert, während man sich droben mit Gedankenspielen von der Freiheit der Menschen verlustierte; doch fielen die Untertanen erst gar nicht in die Gattung Mensch.
In dieser reichlich selbstgefälligen Situation fragten sich manche, wieso man ständig von "Aufklärung" töne, wenn doch die Menschheit nicht weniger im Dunkel lebe als bisher - und da erschien, am 30. September 1784, eine nur zehn Seiten schmale Schrift des Titels "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?". Ihr Autor war Immanuel Kant, der spillerig kleine Philosophie-Gigant droben im entlegensten deutschen Zipfel, in Königsberg unweit Russland. Zu der Zeit war er freilich schon die berühmteste Geistesleuchte weit und breit.
Als Professor für Metaphysik und Logik hatte er - mit Vorlesungen und einer Unzahl kleiner Schriften, nicht zuletzt mit seiner drei Jahre zuvor veröffentlichten "Kritik der reinen Vernunft", gewaltiges Aufsehen gemacht, und überall galt er als unbestechlich freier Geist, niemanden und nichts als seinem Denken untertan.
Selbst schuld!
Die Schrift "Was ist Aufklärung?" begann denn auch ohne Umschweif mit einer endgültigen Definition: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit". Und Kant erläuterte: "Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung." Als Ursachen der Unmündigkeit hielt er dem Volk "Faulheit und Feigheit" vor und verlangte von jedem - ob Untertan, ob Fürst: "Freiheit, und zwar die unschädlichste unter allen, nämlich die, von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen."
Von einer durch Revolution erzwungenen Liberté wollte er nichts wissen, weil wahre Aufklärung einen langsamen Reformprozess bedinge, eine Revolution hingegen nur neue Vorurteile gebäre, dieweil der "große Haufe" weiterhin "gedankenlos" sich leiten ließe, faul und feig. Wohl gelte es, den Befehlen der Oberen zu gehorchen, aber - so Kant - man müsse angezweifelte Vorschriften laut kritisieren und somit mählich ändern dürfen. Denn die "ursprüngliche Bestimmung der menschlichen Natur" bestehe "gerade in diesem Fortschreiten". Damit werde der Mensch, wenn er nur endlich selbst denke, zu einer großen "Weltbürgerschaft" finden. - Sätze, die einschlugen wie Luthers "Von der Freiheit eines Christenmenschen": Auch sie sollten eine Reform anstoßen, doch fünf Jahre danach rasten die Bauernkriege durchs Land. Fünf Jahre nach Kants "Was ist Aufklärung?" erstürmten die Franzosen die Bastille.