Wilder Beifall von den Stehplätzen bis zur Ehrenloge, obwohl schon damals kaum jemand die Regeln verstand - beim ersten Sechstagerennen Europas, das am 15. März 1909 in Berlin begann.
"In den Logen sitzt die Crème und trinkt Bier. Eine der Damen hat, täuscht mich nicht alles, die nackten Beine auf den Tisch gelegt. Beim Nähertreten bemerke ich, dass es nicht die Beine sind, sondern die Arme; aber wer soll das alles auseinanderhalten."
Soweit der Feuilletonist Victor Aubertin: Die Grenzen waren halt irgendwie verwischt bei diesem Ereignis. Aber wie hätte es auch anders sein sollen, bei einer Veranstaltung, die als exotischer Exportartikel direkt aus dem demokratisch-liberalen Amerika zum Gaudium von einfachem Volk bis hinauf zu den hochherrschaftlichen Kreisen ins kaiserlich-konservative Deutsche Reich quasi geradelt kam.
Stunden lang, immer rundherum auf elliptischer Bahn
Oder anders gesagt: das erste in Deutschland - nein, überhaupt das erste in Europa ausgetragene Sechstagerennen war eine Veranstaltung, die den Unterschied von Plebs und Patriziat für ein paar Stunden, wenn auch nicht aufhob, so doch nivellierte.
Kronprinz und Straßenfeger, für beide das gleiche Spektakel! Verkehrte Welt auch im Blinkwinkel. Man amüsierte sich hoheitlich von unten aus der Ehrenloge, von oben klatschte es frenetisch Beifall auf den billigen Stehplätzen. Begeistert waren beide Etagen. Wenn auch auf etwas unterschiedlichem Niveau. Die Luft, die sie atmeten wenigstens, war die Gleiche: schwanger von Nikotin und Alkohol. In Schwaden zog der Rauch von tausend Zigaretten und Zigarren über die eilig errichtete Holzbahn und waberte durch die Ausstellungshalle am Berliner Zoo, für sechs Tage umfunktioniert zum Wintervelodrom.
Es war der 15. März 1909, als exakt um 22 Uhr der erste Startschuss fiel und das Kreisen begann: Fünfzehn Paare, dreißig Fahrer an der Zahl, sechs Tage, 144 Stunden lang, immer rundherum auf elliptischer Bahn, strampelnd und tretend, Tag um Tag, Nacht für Nacht - wie in einem aberwitzigen Hamsterrad.
Und über allem dröhnte die Musik, zum Vergnügen des Publikums am Rande mit dem praktischen Nebeneffekt, dass die Rennfahrer nicht doch noch einschliefen.
3.865 Kilometer im steinharten Sattel
Die Stimmung jedenfalls war sechs Tage lang blendend, auch wenn bald klar wurde, dass die deutschen Radrennfahrer die Hoffnungen nicht erfüllen konnten, die man in sie gesetzt hatte. Die Fahrer Robl und Arend, Stellenbrink und der Publikumsliebling Stol waren bald abgeschlagen und überrundet. Walter Rütt indes, der Sieger des Rennens im Madison Square Garden zwei Jahre zuvor, und auch hier eigentlich der haushohe Favorit, war, in Deutschland fahnenflüchtig geworden, um einer Verhaftung zu entgehen, lieber erst gar nicht angereist. Der Kronprinz, zum Radsportenthusiasten bekehrt, erwirkte umgehend eine Begnadigung, und so stand Rütts Sieg im darauffolgenden Jahr nichts mehr im Weg.
Im Jahr 1909 war der Triumph noch einmal dem Mutterland des Sechstagesports vergönnt, das US-amerikanische Duo Floyd MacFarland und Jimmy Moran holte sich, nach 3.865 Kilometern im steinharten Sattel, den ersten europäischen Sieg.
Der Siegeszug der Sixdays hatte begonnen und hält, mit einigen Unterbrechungen durch Pleiten und Krieg bis heute an. Denn das Rezept ist einfach: Sehen und gesehen werden, das ist, worum es sich beim Sechstagerennen eigentlich dreht. Wen wundert´s, wenn man da also so manchen Besucher sagen hört: "Det einzige, wat ma stört", und man hört es in den Logen genauso wie auf dem Parkett, "det einzige, wat ma stört, det sind die Radfahrer, versteht doch keen Mensch die Regeln."