Fast 43.000 Briefe hatte der spanische Briefträger Gabriel March Granados unterschlagen. Der Staatsanwalt forderte am 11. März 1972 eine Strafe für jeden einzelnen Brief - hochgerechnet 384.912 Jahre Haft!
In einem Informationsblatt über Mallorca heißt es, die Post auf der Insel sei nicht so perfekt organisiert wie in Deutschland, aber Brief- und Paketsendungen kämen in der Regel an. Hier drängen sich unmittelbar zwei Fragen auf: Erstens: Ist die Post in Deutschland wirklich so perfekt organisiert, und zweitens: Was hat es mit diesem "in der Regel" auf sich?
Nicht so genau genommen
Zu Punkt eins: Es gab einmal eine Zeit, da konnte man sagen, doch, ja, die Post in Deutschland ist ziemlich gut organisiert. Es gab - oft sogar ganz in der Nähe von dort, wo man wohnte - Postämter. Dort saßen eigens ausgebildete Beamte! Die wussten auswendig, wie hoch das Porto für einen Brief nach England oder Amerika ist! Heute, wo die Poststellen in anderweitig schwer nutzbaren Ecken von Supermärkten oder in 25 Kilometer entfernten Schreibwarengeschäften eingerichtet sind, ist derlei unvorstellbar.
Wer ein Päckchen aufgibt, hat ein schlechtes Gewissen, weil er jemanden von seiner eigentlichen Arbeit abhält. Wer ein Päckchen erhält, hat ein schlechtes Gewissen, weil der sowieso schon überlastete Zusteller wegen ihm einen Umweg machen musste. Aber die Neuerungen waren unumgänglich, weil die Post zur Aktiengesellschaft geworden war und der Vorstandsvorsitzende der Post AG auf Rentabilität achtete. Allerdings: Bei sich selber nahm es der Vorsitzende nicht so genau. Er hinterzog rund eine Million Euro an Steuern und wurde daraufhin zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Auf Bewährung.
Plädoyer des Grauens
Wir schweifen ab. Zurück nach Mallorca, wo Brief- und Paketsendungen "in der Regel" ankommen. Ende der 1960er-Jahre dürften sie - jedenfalls in der Hauptstadt Palma de Mallorca - mitunter nicht angekommen sein. Damals wirkte dort nämlich ein junger Mann namens Gabriel March Granados als Briefträger. Das heißt, "wirkte" ist insofern der verkehrte Ausdruck, als Granados in den gut zwei Jahren seiner Tätigkeit die wenigsten der ihm anvertrauten Briefe zustellte.
42.768 Stück blieben unausgeliefert. Die meisten hatte Granados geöffnet und nach Schecks oder Bargeld durchsucht. Auf den heutigen Wert umgerechnet hat er auf diese Weise rund 50.000 Euro erbeutet. Er wurde vor Gericht gestellt, und am 11. März 1972 hielt der Staatsanwalt sein Plädoyer: Neun Jahre Freiheitsentzug forderte er - pro Brief! Das machte insgesamt 384.912 Jahre. Zum Glück für Granados war der Richter gnädiger und verurteilte ihn zu lediglich vierzehn Jahren und zwei Monaten.
Im Verhältnis zur staatsanwaltlichen Forderung ist das wenig, im Verhältnis zu den zwei Jahren auf Bewährung für den Vorstandsvorsitzenden der Post AG ist es viel. Zumal der für die letzten beiden Monate seiner Tätigkeit als Vorstandschef - also für eine Zeit, in der die Ermittlungen gegen ihn schon liefen - noch Bezüge in Höhe von 700.000 Euro kassierte, Aktienoptionen mit einem Zeitwert von mehr als einer Million erhielt und sich schließlich seine Pensionsansprüche von mehr als zwanzig Millionen auszahlen ließ. Nach dem Verlust seines Amtes bei der Post wurde er Präsident des Instituts zur Zukunft der Arbeit.
Was Gabriel March Granados macht, ist nicht bekannt. Wir nehmen zu seinen Gunsten an, dass die Resozialisierung verurteilter Straftäter in Mallorca - wenn schon nicht so perfekt organisiert wie in Deutschland - doch in der Regel funktioniert.