Petrus von Ravenna veröffentlichte am 10. Januar 1491 "Phoenix - die Kunst des Gedächtnisses", einer der ersten Bestseller auf dem Buchmarkt, wenn auch nicht die erste Methode, das träge Gedächtnis zu trainieren.
Heute brauchen wir es nicht mehr so oft: unser Gedächtnis - solange wir unser Smartphone nicht vergessen! Ansonsten können wir dort, in unserem externen Speicher, schnell alles nachlesen: die Einkaufsliste, Geburtstage, Verabredungen, Telefonnummern. Fast alles andere lässt sich im Internet nachschlagen - ebenfalls per Handy.
Zum Beispiel die Reden des berühmten römischen Rhetorikers Cicero, gehalten um 50 v. Chr., bis heute Vorbilder eleganter Redekunst. Zu finden unter: www.thelatinlibrary.com. Zugegeben ein Suchbegriff, der eher selten in Smartphones eingetippt wird. Cicero aber wäre sicher froh gewesen, ein solches Hilfsmittel zur Verfügung zu haben - oder wenigstens ein Notizbuch. Zwar gab es zu seiner Zeit Bücher, aber ausschließlich Einzelanfertigungen, handgeschrieben auf Pergament; und das war teuer, als Notizzettel ein unbezahlbarer Luxus. So musste Cicero wie alle seine Zeitgenossen seine Reden im Kopf planen und behalten.
Weil das ohne Systematik schwierig war, bediente er sich einer Gedächtnishilfe, die sein Kollege Simonides von Keos bereits um 500 v.Chr. entworfen hatte: Man suche sich einen Ort, den man sich gut vorstellen kann - einen bekannten Spazierweg, eine Wohnung, oder auch den eigenen Körper. Die einzelnen Inhalte, die man sich merken will, lege man gedanklich an bestimmten Punkten auf einer Route durch das jeweilige Gelände ab. Später kann man sie dort wieder aufsammeln. Cicero machte für seine Reden gedankliche Spaziergänge über den zentralen Platz seiner Heimatstadt Rom, das Forum Romanum. Bis ins Mittelalter hinein blieb diese so genannte Loci-Methode populär. Die Prediger in Klöstern des Mittelalters verteilten ihre Memo-Einheiten in den Räumen ihrer Kirchen.
Ab 1450 wurde alles anders. Johannes Gutenberg gab eine Bibel heraus - keine Handschrift, sondern mit beweglichen Lettern gedruckt. Plötzlich war die Herstellung von Büchern als Massenware kein Problem mehr.
Das gedruckte Buch eroberte die Welt. Auch Ottonormalverbraucher konnte sich diese Wissensspeichermedien leisten.
Gedächtnis der Welt
Zu eben jener Zeit machte in Italien ein junger Jurastudent von sich reden. Petrus von Ravenna hieß er, und er versetzte seine Mitstudenten und Professoren in Staunen, weil er sich ganze Gesetzeswälzer auswendig merken konnte. Auch er benutzte ausgeklügelte Techniken; bei einer davon nahm er die Buchstaben des Alphabets zu Hilfe, mit denen er die Inhalte verknüpfte und ordnete. Oft danach gefragt, was sein Trick sei, schrieb er seine Methoden schließlich auf und ließ sie als Buch verlegen. Es erschien am 10. Januar 1491 - und wurde in kürzester Zeit zum Bestseller. Paradoxerweise just in dem Moment, als das Medium Buch so ausführliches Gedächtnistraining überflüssig zu machen begann.
Längst sind Nachschlagewerke zum Gedächtnis der Welt geworden. Erst in Gestalt vielbändiger, regalfüllender Lexika; und nun eben auch als virtuelle Wolke, jederzeit und überall abrufbar mit einem kleinen Kästchen von der Größe einer Zigarettenschachtel.
Das Gedächtnistraining lebt weiter: als Sport. Die Rekordhalter von Gedächtniswettbewerben in aller Welt bedienen sich immer noch der alten Methoden, sei es derer von Petrus von Ravenna oder der seit 2.500 Jahren bewährten Technik von Simonides und Cicero ... Die ... na, die Dings-Methode, Moment, das schauen wir flugs im Smartie nach. Wie war doch gleich wieder die PIN-Nummer? ... So was Blödes ...