Sie sind beste Münchner Tradition - die Weißwürste, sagen- und mythenumwoben. Ganz bestimmt die Erfindung eines pfiffigen Münchner Metzgers - mit einem französischen Vorbild? Mon Dieu, nein! Autorin: Regina Fanderl
Wir schreiben das Jahr 1857. In einem New Yorker Kaufhaus stellt der Mechanikermeister Elisha Graves Otis den weltweit ersten, absturzsicheren Personenaufzug fertig. Grünes Licht für die Wolkenkratzer! In Paris konstruiert der Buchhändler Édouard-Léon Scott de Martinville das erste bekannte Gerät zur Aufzeichnung von Tönen, den Phonautograph. Im sächsischen Igelshieb erfindet der Glasbläser Heinrich Geißler die erste Leuchtstofflampe. Und in München?
In München geschieht wirklich Weltbewegendes: Die weltberühmte Weißwurst wird geboren.
Mythos Weißwurst
Das Münchner Sagen-und Legendenbuch berichtet, dass dem Moser Sepp, Wirt der Bierwirtschaft "Zum Ewigen Licht" am 22. Februar 1857 - es ist ausgerechnet der Rosenmontag - die Schafsaitlinge, also die Schafsdärme für seine Bratwürste ausgehen. In seiner Not füllt er das fertige Kalbsbrät in noch vorrätige, aber viel umfangreichere Schweinsdärme und legt sie aus Angst, sie könnten beim Braten zerplatzen, nicht auf den Rost, sondern ins heiße Wasser. Die Legende sagt, den Stammgästen und den Honoratioren habe die neue Kreation ausnehmend gut geschmeckt - der Mythos Weißwurst war geboren.
Genau: Mythos! Denn irgendwie erscheint die Geschichte nicht ganz geheuer. Zwar existierte am Marienplatz seit Urzeiten eine kleine Gastwirtschaft "Zum Ewigen Licht", die ihren Namen dem Umstand verdankte, dass unter den finsteren Arkaden im alten München ständig künstliches Licht brennen musste. Doch das Publikum rekrutierte sich hauptsächlich aus den Droschkenkutschern, die am Hauptplatz der Stadt auf Kundschaft warteten. Also keine Rede von Honoratioren! Vermutlich herrschte damals schon der 30 Jahre später polizeilich konstatierte "Kuh-und Saustall"!
Darüberhinaus geht aus Recherchen des langjährigen Münchner Stadtarchivars Richard Bauer hervor, dass die Weißwurst wahrscheinlich viel älter ist als dem Moser Sepp sein Zufallsprodukt!
Bauer entdeckte einen Stich aus dem Jahr 1814, auf dem deutlich zu sehen ist, wie im Bockkeller des Hofbräuhauses Weißwürste gezuzelt werden. In einem ebenfalls älteren Metzgerhandbuch steht, dass die Weißwurst nichts anderes ist, als eine leichtere Variante der eher dickbauchigen Altmünchner Maibockwurst, die zur Bocksaison im Mai zu Abertausenden verschlungen wurde.
Französische Weißwürste?
Nicht auszuschließen ist leider auch die in der Zeitschrift "Stern" propagierte Meinung, die vermeintliche Münchner Spezialität gehe auf eine französische Wurstsorte‚ die "boudin blanc" zurück.
Wie auch immer: auch wenn man im Wurst-Dorado Franken ein Produkt äußerst kritisch beäugt, das nur in Begleitung von süßem Senf, Weißbier und frischen Brezn genossen werden kann - die Weißwurst soll ruhig eine Ur-Münchner Erfindung bleiben. Gute Legenden haben immer auch ein Recht auf ein Kalenderblatt.
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