Auch wenn ihr Ruhm schnell wieder verblasste, damals machte ihr waghalsiger Stunt Annie Taylor über Nacht berühmt: Sie befuhr die Niagarafälle in einem Holzfass – und überlebte. Autorin: Yvonne Maier
Mit 63 Jahren kann man ja vieles machen. In Frührente gehen. Nach Mallorca auswandern. Seine Enkelkinder schaukeln. Oder auch: Sich in einem Holzfass die Niagara-Fälle herunterstürzen. Dass sich Annie Taylor für die letztere Variante entscheiden würde, war nicht abzusehen. Geboren wurde sie 1838 im US-Bundesstaat New York. Viel Glück im Leben hatte sie nicht: Mit 12 starb ihr Vater, ihr Sohn während seiner Kindheit und kurz danach auch noch ihr Ehemann. Jung war sie Witwe – immerhin konnte sie sich ihren Lebensunterhalt verdienen, als Lehrerin.
Von ihrem persönlichen Unglück ließ sie sich niemals unterkriegen – nach einem Umzug nach Michigan eröffnete sie eine Tanzschule, später unterrichtete sie auch Musik. Das Problem: Für die Rente war nicht vorgesorgt. Annie Taylor musste nicht lang nachdenken, womit sie sich den Ruhestand aufhübschen wollte. Sie wollte berühmt und reich werden – und zwar als erster Mensch der Welt, der sich in einem Fass die Niagara-Fälle hinunterstürzt.
Queen of the Mist
Es gibt schwarz-weiß Fotos von Annie Taylor und ihrem 1,40 Meter hohen Holzfass. Eine Matrone mit langem, dunklen Kleid, Korsett und Hut mit Federn blickt entschlossen in die Kamera. Neben ihr auf dem Fass: eine helle Katze. Die schickte Annie Taylor zuerst im Fass die Fluten hinunter – um zu testen, ob man so etwas überhaupt überleben kann. Man kann. Die Katze überlebte den Sturz mit einer kleinen Platzwunde am Kopf. Zwei Tage später war es dann so weit. Annie Taylor stieg in das Fass, das innen mit einer Matratze gepolstert war. Es war quasi ihr ganz persönliches Geburtstagsgeschenk, denn an diesem 24. Oktober 1901 wurde Annie Taylor 63 Jahre alt. "Queen of Mist" – die Königin des Nebels – so taufte sie ihr Fass. Sie stieg hinein – mit ihrem Glücksbringer, einem herzförmigen Kissen. Ihre Freunde schlossen den Deckel und pumpten mit einer Fahrradpumpe durch ein kleines Loch noch Frischluft in das Fass. Schlossen es mit einem Korken und ab ging‘s die Horseshoe-Fälle hinab, den kanadischen Teil der Niagara-Fälle. 51 Meter tief.
Nicht zur Nachahmung empfohlen
17 Minuten später, gegen 16:40 Uhr, stieg eine ziemlich durchgeschüttelte, aber fast unversehrte Annie Taylor aus dem Fass heraus. "Ich rate jedem davon ab, das zu versuchen. Ich würde mich lieber vor eine Kanone stellen, im Wissen, dass sie mich in tausend Stücke zerreißt, als das nochmal zu tun!" Sagte sie – und versuchte dennoch aus dem Abenteuer Geld zu machen.
Nicht so einfach. Ihr Manager klaute ihr Fass und damit ihre Geldquelle, später versuchte sie ihr Glück an der New Yorker Börse und als Hellseherin war sie auch nicht so richtig erfolgreich. 1921 starb Annie Taylor – mit 83 Jahren. Auf ihrem Grabstein steht: "Der erste Mensch, der die Horseshoe-Fälle in einem Fass durchquerte und es überlebt hat." Seit 1980 ist es übrigens verboten, die Niagara-Fälle zu befahren – ganz egal in welchem Gefährt.