Eines der wichtigsten Werke der impressionistischen Plastik, geschaffen von Auguste Rodin, voll innerer Bewegung und eine Demokratisierung des Denkmals. Autorin: Christiane Neukirch
Wer plant, den Ärmelkanal zu durchschwimmen, weiß: Der kürzeste Weg vom Kontinent nach England startet in Calais. Die Stadt im äußersten Nordosten Frankreichs zählt rund 70.000 Einwohner. Sechs von ihnen stehen vor dem Rathaus, seit vielen Jahrzehnten, Tag und Nacht, in nichts als löchrige Lumpen gehüllt. Wie sie das aushalten? Ganz einfach: sie sind aus Bronze. Wind und Wetter müssen sie nicht fürchten. Was also sind die Strapazen, die ihnen so deutlich ins Gesicht geschrieben stehen?
Opfermut und Gnade
Der Bildhauer Auguste Rodin hat diese Bürger von Calais in Bronze gebannt, im schwersten Moment ihres Lebens. Dieser Moment liegt lange zurück: Im Jahr 1347 steht die Stadt unter englischer Belagerung. Nach 11 Monaten sind die Bewohner am Ende ihrer Vorräte und ihrer Kraft. Ihnen bleibt nur die Wahl zwischen Hungertod oder einem anderen schrecklichen Ende: Kapitulation, Plünderung, Zerstörung. Gnade will der englische König nicht walten lassen; doch er gewährt den Calaisern einen Ausweg. Er verspricht, die Stadt zu verschonen; unter folgender Bedingung: Sechs Bürger müssen sich opfern. Barhäuptig, barfüßig, im Unterhemd und mit einem Strick um den Hals sollen sie ins englische Lager kommen, wo sie der Henker erwartet. Der Stadtschlüssel ist auszuhändigen. Ein hoher Preis - aber die einzige Rettung für die Übrigen. Der Bürgermeister ruft alle Bürger zusammen und teilt mit, was die Engländer verlangen. Zu seiner Überraschung melden sich sechs Freiwillige. Ein Chronist hat für die Nachwelt festgehalten, wie es weiterging: Die Sechs tun wie verlangt. Sie kommen und übergeben den Schlüssel. Doch gerade als der Henker an ihnen seine Pflicht tun will, gibt es eine überraschende Wendung. Der König schenkt ihnen das Leben. Dieses wundersame Happy End ist der Königin zu danken. Sie bittet ihren Mann um Gnade. Der Chronist erklärt: "Er hörte auf seine Gemahlin, weil sie sehr schwanger war."
Ein demokratisches Denkmal
Dass es so ausgehen würde, wissen die sechs Helden noch nicht, als sie zu ihrem schweren Gang aufbrechen. Was sie im Einzelnen gedacht haben in diesem Moment, steht in der Chronik nicht. Doch ein anderer hat diese Lücke gefüllt: der Bildhauer Auguste Rodin. Er holte sich vor Augen, was die sechs Männer wohl beschäftigt haben mag angesichts ihrer Entscheidung, in den Tod zu gehen. Rodin erhielt von der Stadt Calais den Auftrag, den sechs mutigen Bürgern ein Denkmal zu setzen. Dieses Denkmal, das am 3. Juni 1895 in Calais aufgestellt wird, ist grundlegend anders als die üblichen Monumente: Kein Sieger hoch zu Ross beherrscht den Platz, sondern sechs zweifelnde Menschen begegnen dem Betrachter auf Augenhöhe. Eine Gruppe sind sie, und doch steht jeder für sich, in Gedanken über das eigene Schicksal. Durch die fadenscheinigen Fetzen ihrer Kleider sieht man ihre angespannten Muskeln. Ein demokratisches Denkmal.