Zensur im Zeichen von "Anstand und Moral"? Darüber muss gerichtet und hingerichtet werden, mit messerscharfem Wort und dem tödlichem Spott des Kabaretts - von elf Scharfrichtern. Autor: Thomas Grasberger
Exekutionen sind bei uns aus der Mode gekommen. Zu Recht. Denn beim Herrichten der Hinzurichtenden gab es allzu viele Verwechslungen; was nicht selten dazu führte, dass ein an sich schon äußerst unschönes, ja verrohendes, vor allem aber irreversibles Ritual schlechterdings an völlig Unschuldigen vollzogen wurde. Derlei juristisch bedingte Kopflosigkeiten sind daher in zivilisierten Weltgegenden heute nicht mehr üblich. Gottseidank, möchte man sagen.
Messerscharfes Mundwerk
Dennoch soll an dieser Stelle eine Lanze gebrochen werden für die gute alte Exekution. Zum Beispiel jene, die mit dem messerscharfen Beil des gesprochenen oder gesungenen Wortes durchgeführt wird. Kabarettistische Exekutionen, wie sie einst in der Münchner Türkenstraße 28 üblich waren. Dort verrichteten "Die Elf Scharfrichter" ihr schneidendes Hand- oder besser gesagt: Mundwerk.
Ihr erster Auftritt fand am 13. April 1901 statt - im Hinterzimmer vom Gasthaus "Zum Goldenen Hirschen". Der alte Fechtboden bot etwa 100 Zuschauern Platz, die Zeugen der ersten Exekution wurden, bei der Scheinmoral und Heuchelei aufs Schafott kamen.
Die Jahre um 1900 waren nämlich ein Goldenes Zeitalter für Moralapostel und Sittenschnüffler. Pfarrer, Lehrer, Richter, Politiker, Polizeibeamte - sie alle sahen damals Anstand und Abendland in Gefahr. Was teils zu grotesken Auswüchsen führte. 1895 etwa, als ein Münchner Magistratsrat den Antrag stellte, den Transport von abgehäuteten Kalbshinterteilen durch die Stadt zu verbieten. Aus sittlichen Gründen!
Oder 1904, als Polizisten in eine Münchner Buchhandlung eindrangen, um ein Buch mit dem Titel "Liebhaberkünste" aus der Auslage zu entfernen. Es handelte sich dabei, wie sich herausstellte, um ein Buch über Laubsägearbeiten!
Aber nicht nur München leuchtete damals, wegen der allzu vielen Scheinheiligen-Scheine! In ganz Deutschland galt seit dem Jahr 1900 ein höchst umstrittenes Gesetz, in dem es darum ging, die öffentliche Darstellung "unsittlicher" Handlungen in Kunst, Literatur und Theater zu zensieren.
Das ganze kulturelle Leben sollte mit der so genannten "Lex Heinze" gemaßregelt werden. Alles, was das "Schamgefühl gröblich verletzen könnte", sollte aus dem Verkehr gezogen werden.
Folter für die Obrigkeit
Das liberale Bürgertum und die Sozialdemokraten protestierten scharf gegen den kaiserlichen Gesetzesentwurf. Und in jener Zeit entstanden dann auch die ersten Kleinkunstbühnen: in Berlin das "Ueberbrettl" und das "Schall und Rauch", in München "Die Elf Scharfrichter" um Otto Falckenberg. Mit Folterwerkzeugen, einem Totenkopf mit Richterperücke und einem Pranger stiegen die Kabarettisten auf die Bühne, um gegen die obrigkeitsstaatliche Zensur zu polemisieren. Drei Jahre lang, drei Mal die Woche – bis den Scharfrichtern 1904 finanziell die Luft ausging. Ihr Ruhm aber war weit über die Stadtgrenzen Münchens hinaus gesichert, nicht zuletzt wegen Frank Wedekind – dem Bürgerschreck aus der Schwabinger Bohème. Von ihm stammte auch das Lied "Ilse", das am Premierenabend den Blutdruck der Moralapostel weit in den dreistelligen Bereich hinaufgetrieben haben dürfte. Mit blutroten Lippen und im bodenlangen schwarzen Kleid sang Marya Delvard, die laszive "Muse von Montmartre", folgende Zeilen:
„Er nahm mich um den Leib und lachte
Und flüsterte: Es tut nicht weh -
Und dabei schob er sachte, sachte
Mein Unterröckchen in die Höh'.“