Eben noch war Beijing im Vorort Mentogou zum Midi-Festival und im Tongzhou Park zum Strawberry-Festival im absoluten Rockfieber und schon stand nach einem Warm-up in der Siif-Bar am Abend zuvor im Künstlerviertel 798 das nächste große Musikevent vor der Tür. Dieses Mal sollten jedoch harte Beats und sanfte Vocals das Programm bestimmen. Was in Deutschland das Nature One mit mehr als 50.000 Besuchern und Headlinern wie Paul van Dyk, Chris Liebing und Carl Cox ist, möchten auch die Veranstalter des INTRO, das Elektronik-Label Acupuncture Records, mit der Zeit erreichen. Seit 2007 arbeiten acht DJs und Produzenten in Beijing an der Verbreitung guter zeitgenössischer elektronischer Musik. Ob intime Minimal-Parties, glanzvolle Silvesterveranstaltungen mit mehr als 2000 Besuchern, Underground-Treffpunkte, Clubs und Lagerhallen im Künstlerviertel 798, alles war bisher dabei und hat zum Erfolg der Veranstalter beigetragen. Das INTRO-Festival, das für „Ideas Need To Reach Out" steht, gilt dabei als Plattform des Glaubens an das lebendige Potential der Musik, Menschen zu verbinden. Es ist zudem ein Vorzeigeprojekt für die Unterstützung von Innovationen in elektronischer Musik und digitaler Kunst. Die Macher des Festivals lieben das Leben, die Musik, die Freiheit, sowie Kunst und alternative Kultur und möchten diese Leidenschaft mit anderen Menschen teilen. Wong Miao erzählt, wie alles begann:
„Ein Festival der elektronischen Musik zu veranstalten war eines unserer größten Träume. Unser Team, ich und die anderen, wir waren oft im Ausland, haben dort elektronische Musikfestivals besucht. Sogar wenn wir nur Videos davon gesehen haben, ihre Größe, die Atmosphäre... Unsere kühnsten Träume würden in Erfüllung gehen, wenn wir es schaffen würden, so etwas auf die Beine zu stellen. Aber so was in China zu machen ist wirklich sehr, sehr schwer. Es gab also einen Keim in unserem Herzen, aber wir wussten nicht, wann und wie daraus eine wirkliche Pflanze entstehen würde. Aber wir haben ab dem ersten Tag sehr hart daran gearbeitet. Und naja, ich glaube, es hat geklappt."
Da die Wurzeln elektronischer Musik vor allem in Deutschland zu suchen sind, ist es sicher nicht verwunderlich, dass auch das Goethe Institut in Beijing in den ersten beiden Veranstaltungsjahren Starthilfe für das INTRO-Festival leistete. Bereits 2008 förderte das weltweit tätige Kulturinstitut der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Deutsche Elektronische Musik" eben diese Musikrichtung in China. So wurde bereits zur Premiere des INTRO im Jahr 2009 der Dokumentarfilm „We call it Techno" über die Entwicklung und Bedingungen der frühen Elektromusik-Kultur in Deutschland durch das Institut präsentiert. In diesem Jahr sollte es das Buch „Die Reise des Tons – Die Landschaft der deutschen elektronischen Musik" des bekannten chinesischen DJs Zhang Youdai sein, das den Besuchern während des Festivals vorgestellt wurde.
Waren in den ersten beiden Jahren deutsche DJ-Größen wie Chris Liebing und Flo Eysler in Beijing zu Gast, so standen im Mai 2011 bekannte ausländische Disk Jockeys wie etwa Josh Wink aus den USA, Paul Ritch aus Frankreich und DJ Sodeyama aus Japan hinter den Plattentellern. Sie heizten der Masse gemeinsam mit den DJs von Acupuncture Records, von denen ELVIS.T und Terry Tu zu den Pionieren der elektronischen Musikszene in China zählen, bis in die späten Abendstunden ein. Dabei wurden Stilrichtungen wie Drum'n Bass, Dubstep, Elektro und Minimal House zwischen den zu Blechruinen erstarrten Gastanks zum Besten gegeben. Der chinesische DJ ELVIS.T, der bereits als Gast-DJ im Berliner Club Tresor auflegte, spricht mit uns über seine Eindrücke der Elektromusik-Szene in China.
„Ich glaube, sie ist immer noch in der Phase der Entwicklung, aber ich glaube auch, es ist besser als zuvor. Wir haben sogar ein eigenes Label, mit unserer eigenen Musik. Ich glaube, es ist sehr wichtig, dass es in jeder Stadt in China eigene Musik gibt. Es gibt sehr viele DJs in China, und da muss sich eine eigene Stilrichtung entwickeln. Auf der anderen Seite hatten wir damals auch mehr Spaß, der Spaß stand mehr im Vordergrund. Heute geht es mehr um Arbeit."
Und welchen Eindruck hat das chinesische Publikum, das sich in den letzten Jahren eher rar gemacht hat? Ma Yue ist bereits das dritte Mal hier.
„Ich habe das ganze Jahr über sehr viel zu tun, muss die ganze Zeit arbeiten. Da komme ich hierher, um mich zu entspannen und mit Freunden abzuhängen. Ich glaube, in China wird diese Art von Musik mit der Zeit immer beliebter. Genauso wie es mit Punk oder Rock passiert ist."
Im Anschluss an das Festival im Künstlerviertel konnte sich die Feiergemeinde in mehreren Clubs der Stadt bis in die frühen Morgenstunden zu harten Beats austoben. Gegen sechs Uhr morgens folgten dabei die letzten Gäste den ersten Sonnenstrahlen auf ihrem Weg nach Hause. Sicher werden auch sie sich die Record Release Party am 15.06. im Beijinger Club The House nicht entgehen lassen.