Mitten durch ein Dorf floss ein kleiner Fluss und teilte es in zwei Hälften: das Ostdorf und das Westdorf. Die Bewohner an beiden Ufern lebten friedlich miteinander.
Zwar führte keine Brücke über den Fluss, stes aber lagen Boote aus dem Besitz des Dorfes an den Ufern vertäut, so dass jeder, der über den Fluss wollte, eines davon nehmen und hinüberrudern konnte. Und das geschah jeden Tag, dass man ohne weiteres zum Markt, zur Schule oder zum Tempel konnte.
Eines Abends brach im Ostdorf Feuer aus. Im Nu standen einige Häuser in Flammen. „Hilfe, Hilfe!" schrieren die Leute. Die Kinder heulten. Die Bewohner aus dem Ostdorf rannten herbei und holten mit Kübeln und Töpfen Wasser aus dem Fluss, um das Feuer zu löschen.
Die Bewohner des Westdorfs hörten das Schreien und sahen vom anderen Flussufer aus, wie die Flammen rot in den dunklen Himmel emporloderten.
„Fahren wir doch hinüber und helfen mit!" schlug einer vor.
„Was? Das wäre ja lebensgefährlich!" widersprachen die anderen. „Außerdem, was geht uns denn das Feuer an? Es kann doch nicht über den Fluss springen!"
So blieben die Bewohner des Westdorfs tatenlos an ihrem eigenen Flussufer stehen.
Doch der Wind fachte das Feuer noch mächtiger an. Es breitete sich immer weiter aus und griff auf den Dorftempel und die Dorfschule über. Die wurden schwer beschädigt.
Da brach eine große Finanznot aus, unter der auch die Gaffer aus dem Westdorf zu leiden hatten. Sowohl der Wiederaufbau als auch die Renovierung belasteten alle Bewohner des ganzen Dorfes.
Am Jahresende hielt der Dorfschulze eine Rede über die Ereignisse des vergangenen Jahres. Dabei sagte er, „Wenn ihr aus dem Westdorf bei der Feuerbrunst mitgeholfen hättet, wäre die Not abgewendet worden. Es war nicht recht, dass ihr das Feuer am Ufer zugesehen habt! Dass ihr auch den Schaden ertragen müsst, daran seid ihr selber schuld."
Das Sprichwort Ge An Guan Huo, auf deutsch „vom anderen Ufer aus dem Feuer zuschauen", bedeutet, dass man völlig gleichgültig zusieht, wie andere Not leiden.