Tempel und Klöster befinden sich normalerweise ebenerdig, zumindest nicht in schwindelerregenden Höhen. In der Provinz Shanxi jedoch gibt es ein Kloster, das hängt regelrecht an nackter Felswand. Und daher auch der Name: „Hängendes Kloster". Dieser einzigartige Bau liegt in der Nähe der Stadt Datong und wurde vor rund 1.500 Jahren zum Ende der Nördlichen Wei-Dynastie errichtet. Es ist das einzige bis heute existierende Kloster, in dem Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus verehrt werden.
Das „Hängende Kloster" hieß früher „Xuankongge". „Xuan" stammt dabei von der Lehre des traditionellen chinesischen Daoismus. Und „Kong" stammt aus dem Buddhismus. Später erhielt es den Namen „Hängendes Kloster", und diese Bezeichnung trifft ganz und gar auf den Punkt.
Nun gibt es in China zahlreiche interessante und beeindruckende Bauten, das „Hängende Kloster" aber ist sicher besonders hervorzuheben. Es liegt in einem kleinen Becken in einem tiefen Tal, und an beiden Seiten dieses Tals sind über 100 Meter hohe Felsen. Betrachtet man das Kloster von der Weite, so sieht es aus, als ob die Konstruktion an einer Seite direkt an dem Felsen haftet und etwa 50 Meter über dem Boden in der Luft hängt. Und besonders beeindruckend ist: zum „Hängenden Kloster" gehören insgesamt 40 Hallen, Räume und Pavillons!
Die architektonische Besonderheit des Klosters ist wirklich verblüffend: eine Spitze des dortigen Felsen ragt heraus und sieht fast aus wie ein Regenschirm, der das Kloster vor Regen schützt. Zudem sind die Gebäude vor starker Sonneneinstrahlung geschützt - im Sommer sind es nur etwa drei Stunden Tag, in denen die Sonne auf das Kloster scheint. Kein Wunder also, dass, obwohl die Struktur des Klosters aus Holz ist, sie seit über tausend Jahren nahezu unbeschädigt erhalten ist.
Die zweite Besonderheit ist das „Hängen". Das ganze Kloster wird von mehr als zehn dicken Holzbalken gestützt. Dabei stützen nicht alle Balken das Kloster, das Gewicht wird vielmehr durch das darunterliegende Gebälk getragen. Dazu wurde Holz von der einheimischen Helmlocktanne verwendet; die viereckigen Balken wurden tief in die Felswand geschlagen. Vorher wurden die Balken in spezielles Öl getaucht, um sie beispielsweise vor Termiten zu schützen. Und der Ölüberzug schützt auch vor dem Fäulnisprozess. Das Fundament der Hallen und Pavillons ruht auf dem Balkenwerk. Außerdem tragen die stehenden Pfosten unter dem Kloster dazu bei, dass das Kloster quasi „in der Luft hängt". Die Architekten haben damals die Konstruktion des Balkenwerks genau und präzise kalkuliert. Einige Balken tragen das Fundament, andere dienen dazu, das Gleichgewicht der verschiedenen Hallen und Pavillons beizubehalten. Manche Balken haben erst dann eine Funktion, wenn sie mit einem gewissen Gewicht beladen sind. Ohne Belastung würde ihre Funktion wegfallen.
Eine andere Besonderheit des „Hängenden Klosters" ist die ausgefeilte Architektur. Dazu wurde die natürliche Umgebung genau betrachtet und dann genutzt, um der Lage entsprechend verschiedene Gebäude zu errichten. Ein Beispiel dafür ist die Sanguan-Halle, eines der größten Gebäude im „Hängenden Kloster". Beim Bau dieser Halle versuchten die Architekten, durch das Ausnutzen der dort löchrigen Felswand mehr Platz zu gewinnen. Vorne sind also Räume aus Holz, und hinten wurden einige Höhlen in die Felswand geschlagen. Dadurch erscheint die Halle deutlich größer. Die anderen Hallen des Klosters sind meistens klein und nicht sehr tief. Auch aus diesem Grund sind die verschiedenen Statuen dort relativ klein. Die Planung der jeweiligen Hallen ist ebenfalls interessant, denn diese erfolgte ebenfalls wieder nach dem Verlauf des Felsens.
Sicher stellt sich die Frage, warum man eigentlich ein Kloster in eine Felswand hineinbauen muss. Die Antwort leuchtet aber dennoch ein: damals verlief unter dem „Hängenden Kloster" ein stark frequentierter Handelsweg. Das Kloster wurde an diesem tatsächlich „herausragenden" Ort gebaut, damit die Pilger es leichter finden konnten. Außerdem gibt es am Fuße des Berges, an dem sich das Kloster befindet, einen Fluss. Früher gab es in der Region dort oft heftige Regenfälle und in der Folge auch Überschwemmungen. Man glaubte, dass ein „goldener Drache" diese Überschwemmungen herbeiführe. Daher kam man auf die Idee, buddhistische Pagoden zu errichten, um den Drachen zu besänftigen – und baute auch deswegen an gerade jener Stelle das „Hängende Kloster".
An der Felswand in der Nähe des Holzsteiges sind vier große Schriftzeichen zu sehen; sie besagen in etwa: „Gongshu hat die beste Bautechnik". Mit dem Spruch wird die beim Bau des Klosters eingesetzte Technik gewürdigt. „Gongshu" war ein Architekt, der vor über 2.000 Jahren gelebt hat. Er gilt in den Augen vieler als Gründer der Bautechnik in China. Die vier Schriftzeichen verdeutlichen auch, dass nur dank seiner Technik der Bau des Klosters verwirklicht werden konnte.
Im Dezember wurden in der Zeitschrift „Times" zehn auffallende und unter besonderen Umständen errichtete Bauwerke gewürdigt. Dazu zählten beispielsweise die „Tür der Hauptstadt" in Abu Dhabi in den Arabischen Emiraten oder die Meteora-Klöster in Griechenland sowie der „Schiefe Turm von Pisa" - und auch das „Hängende Kloster" in der Provinz Shanxi: eine angemessene Würdigung für ein architektonisches Meisterwerk!