"Stehen Sie langsam auf und gehen Sie mit erhobenen Händen zur Wand!" befahl eine harte Stimme.
Erschrocken riss Marina die Augen auf, schloss sie sofort wieder, geblendet vom gleißenden Licht, das auf sie gerichtet war. Robert blinzelte gegen die Helligkeit an, versuchte, die Gestalten zu erkennen, deren Handscheinwerfer auf sie gerichtet waren.
"Was wollen Sie? Wer sind Sie? Wir sind nur vor dem Regen in das Haus..."
"Polizei. Gehen Sie jetzt langsam mit erhobenen Händen zur Wand!"
"Aber was ist denn, das Fenster bezahle ich natürlich..."
"Schluss jetzt! Aufstehen!" unterbrach ihn die unerbittliche Stimme. Einer der Lichtkegel zeigte ihnen eine Gruppe von olivgrün vermummten Gestalten, schwarzglänzende, lehmtriefende Lederstiefel, geschlossene Helme, schwere Waffen in den Händen. Auch durch die Fenster drang jetzt helles Licht, aber es war nicht die Sonne. Schritte von schweren Stiefeln und das Quäken und Piepsen aus Funkgeräten vermischte sich mit dem grollenden Brummen kräftiger Motoren. Da draußen schien eine Armee aufzumarschieren.
"Ich verstehe das nicht..." sagte Marina, aber sie standen auf und gingen langsam zur Wand, verfolgt von den Fingern der Stableuchten, die aus ihren Schatten tanzende Kobolde machten. Robert wollte nach Marinas Hand greifen, aber die Stimme herrschte ihn an: "Auseinander! Hände nach oben! Gesicht zur Mauer."
Hinter sich hörten sie, wie jemand den Koffer öffnete, die Sofas wurden weggerückt, die Glasplatte des Tisches ging endgültig zu Bruch.
Gut, sie können sich umdrehen, die Hände bleiben oben!"
Sie gehorchten, hatten keine Möglichkeit, ihre Nacktheit vor den Blicken der Eindringlinge zu verbergen. Die Bademäntel lagen vor dem Sofa am Boden. Zwei Polizisten traten ins Licht, suchten aus dem Haufen, der aus dem Koffer geschüttet worden war, einige Kleidungsstücke und warfen sie Robert und Marina zu.
"Ziehen Sie sich das an."
Marina weinte, aber Robert durfte sie nicht trösten. Wenn doch nur der Alptraum ein Ende nähme. Ich will aufwachen, das kann nicht wahr sein.
"Frau Haube, Sie und ihr Begleiter sind vorläufig festgenommen", sagte der Polizist, der sie geweckt hatte.
"Aber ich bin nicht Frau Haube. Ich heiße Marina Rösch, und das ist mein Mann, Robert Rösch. Sie verwechseln uns."
"Dann verwechseln wir auch Ihr Versteck?" Der Beamte verzog seinen Mund zu einem höhnischen Grinsen. "Dann haben die Herrschaften auch nichts mit dem Attentat zu tun? Lassen Sie den Unsinn, ziehen Sie sich fertig an, dann kommen Sie mit! Das Spiel ist aus."
Robert zog es angesichts der drohenden Waffen und der aggressiven Stimmung vor, einstweilen nicht zu protestieren. Der Irrtum würde sich schnell klären. Attentat? Was für ein Attentat?
Sie schlüpften in die Kleider, bekamen Handschellen angelegt und folgten dem Polizisten durch den Flur, dicht gefolgt von den vermummten Schützen mit den Waffen in den Händen. Aber es ging noch nicht zum Ausgang. Sie wurden eine Treppe hinuntergeführt. In einem Kellerraum lagen Matratzen, Essensreste, Kerzen, Streichhölzer verstreut. Eine der Wände war aufgebrochen, drei Polizisten waren damit beschäftigt, Waffen und Munition aus dem Hohlraum dahinter hervorzuholen.
"Gibt es im Haus noch mehr Verstecke?" wollte der Polizist wissen.
Robert zwang sich zur Ruhe. "Das weiß ich nicht. Wir sind vom Regen überrascht worden, in dieses Haus eingedrungen, um einen Unterschlupf zu finden. Wir waren auf Zimmersuche. Bitte, fragen Sie im Hotel Mühle, dort hat man uns am Nachmittag abgewiesen, weil nichts mehr frei war, die Leute dort kennen uns."
"Und wen soll ich dort wohl fragen?" schrie der Polizist Robert an. "Wen? Sie haben ganze Arbeit geleistet! Soll ich die achtundsechzig Leichen fragen, die da liegen? Ja?"
Robert war vor den Kopf geschlagen und fand keine Antwort.
"Aber den General habt ihr nicht erwischt! Der kam erst später nach Rothberg, achtundsechzig unschuldige Menschen habt ihr umsonst umgebracht. Schweine!"
Marina liefen die Tränen über das Gesicht. "Mein Gott! Damit haben wir nichts zu tun. Es ist nicht wahr." Sie zitterte vor Entsetzen, konnte wegen der Handschellen die Tränen nicht fortwischen.
Der Beamte bezwang seine Wut und wurde wieder ruhiger. "Frau Haube, Sie sind beobachtet worden, als Sie das Hotel betraten und verließen. Zwei Zeugen haben Ihren Wagen hierher abbiegen sehen. Wir hatten allenfalls damit gerechnet, dass Sie zum Hotel zurückkehren würden, wenn der General da sein würde. Das war unser Fehler. Und dass wir Sie zu spät identifizieren konnten. Wir haben nicht geahnt, dass Sie das ganze Hotel in die Luft sprengen würden."
Er wandte sich an Robert. "Wer Sie sind, wissen wir noch nicht, aber Frau Haube ist aufgrund der Fahndungsfotos identifiziert. Leugnen ist zwecklos, es ist besser, Sie sagen uns jetzt die Wahrheit."
"Meine Papiere sind im Handschuhfach des Autos. Ich bin Robert Rösch, aus Berlin, Modefotograf, das ist meine Frau Marina."
"Ihr Fahrzeug wird bereits zur Untersuchung gebracht. Wir werden ja sehen, wer Sie sind. Jetzt kommen Sie beide mit."
Von den vermummten Bewaffneten wurden sie zu zwei verschiedenen Polizeifahrzeugen gebracht. Das Gebäude und die nähere Umgebung waren von zahlreichen Scheinwerferbatterien angestrahlt, da standen gepanzerte Fahrzeuge der Polizei, eine Feuerwehr, zwei Notarztwagen und etliche Mannschaftstransporter. Der Regen war versiegt, Dieselgestank überlagerte die Frische der vom Gewitter gereinigten Luft.
Eingezwängt zwischen zwei Polizisten, einen dritten mit gezogener Waffe direkt gegenüber, saß Robert im VW-Bus und versuchte, durch das vergitterte Fenster etwas zu erkennen. Gespenstisch sprangen die Bäume im kreisenden Schein der Blaulichter hin und her, die Wagenkolonne schlingerte mit erheblichem Tempo über den aufgeweichten Waldweg.
Als sie Rothberg erreichten, erkannte Robert einige Geschäfte, in denen sie schon gebummelt hatten, die Sparkasse, die Kirche, in der sie nie gewesen waren.
Sie näherten sich der Uferpromenade und dem Hotel Mühle. Der Konvoi fuhr langsamer, die Straße war von bewaffneten Polizeikräften abgeriegelt. Hunderte von Schaulustigen drängten sich an den Absperrgittern und versuchten, einen Blick auf die vermeintliche Sensation zu werfen.
Vom Hotel war nicht viel übriggeblieben. Ausgebrannte Autos standen vor der zerstörten Fassade, ein Teil des Daches war eingestürzt. Beißender Qualm drang aus den Trümmern bis in die langsam vorbeifahrenden Fahrzeuge. Zugedeckte Bündel lagen am Straßenrand. Man konnte ahnen, was sie verbargen. Zwei Feuerwehrmänner brachten gerade ein Kind aus der Ruine, ein Arm fehlte, die toten Augen starrten anklagend in die Nacht.
"Ihre Opfer!" knurrte der Polizist mit der Waffe. "Man sollte gar nicht so lange fackeln, Rübe ab und fertig."
"Halt den Mund!" sagte ein anderer Beamter.
Robert holte tief Luft. Er hatte Angst. Angst davor, was noch auf ihn und Marina warten mochte. Angst vor den Polizisten, die ihre grenzenlose Wut kaum verbargen. Angst vor der Waffe, die schussbereit auf ihn gerichtet war.
Er hatte Verständnis für die Polizisten, sah ja mit eigenen Augen, was passiert war. Und diese Männer hielten ihn und seine Frau für die Mörder. Wie waren sie nur darauf gekommen? Frau Haube hatte man Marina genannt. Sah Marina der Gesuchten tatsächlich so ähnlich? Wie lange mochte es dauern, bis solch ein Irrtum aufgeklärt war? Man würde die Ausweise überprüfen und dann -
Robert zuckte zusammen. Marina hatte keinen Ausweis. Der war mitsamt der Handtasche in Magdeburg verschwunden. Sie konnte ihre Identität nicht nachweisen.