Der alte Mann hockte tagsüber seit einem Monat auf der Straße direkt vor dem großen "Atrium-Hotel" und nur eine dünne, zerlumpte Wolldecke als Unterlage schützte ihn ein wenig vor der Kälte. Ein Pappschild mit der Aufschrift "ARBEITS- UND OBDACHLOS - EINE MILDE GABE BITTE" lehnte an der Hauswand neben ihm. Der Kopf des Mannes war mit einem verwitterten Schlapphut bedeckt, aus dem lange weiße Haare bis auf die Schulter fielen und der weiße Bart reichte ihm bis auf die Brust. Eine große dunkle Sonnenbrille bedeckte fast das ganze Gesicht. Dieser Anblick vermittelte Elend und einige mitleidige Passanten sorgten ab und zu dafür, dass die kleine Schachtel, die dieser bedauernswerte Mensch vor sich aufgestellt hatte, abends immer mit einigen Münzen gefüllt war.
Mehrmals täglich erhob sich der Bettler mühsam und suchte mit schleppendem Gang die Toilette des gegenüberliegenden Bahnhofs auf. Danach aber betrat er regelmäßig das First-class-Hotel und bat an der Rezeption um ein Glas Wasser.
Das "Atrium-Hotel" zählte zu den vornehmsten Häusern dieser Stadt und dieser unansehnliche Bettler war der Direktion längst ein Dorn im Auge. Aber einen armen alten Mann abzuweisen oder gar zu verjagen, wäre dem guten Ruf dieses Hauses nicht sehr zuträglich gewesen. So duldete man diesen Obdachlosen und hoffte darauf, daß er seinen Standort bald wieder freiwillig wechselte.
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Hubertus v. Kahmen wurde von fast allen, die ihn kannten beneidet. Und ihn kannte die ganze Stadt. Er war wohlhabend, aber hatte selbst kaum etwas zu seinem Reichtum beigetragen. Als Einzelkind von Haus aus stinkreich, war sein Erbe nach dem Ableben seines letzten Vorfahren derart groß, dass man es schwerlich versaufen oder verhuren konnte. Auch seine Besitztümer wie Immobilien und Ländereien waren beträchtlich. Das "Atrium-Hotel" gehörte dazu. Das Glück war Hubertus v. Kahmen immer hold gewesen. Zu seinem enormen Reichtum hatte ihm der Schöpfer auch noch ein gutes Aussehen beschert. Auch die Herzen der Damen flogen ihm zu. Bekanntlich aber machen gutes Aussehen und Reichtum allein nicht glücklich. Sein Verhängnis: Er hatte vor Jahren die falsche Frau geheiratet. Nicht etwa, dass er sich ihrer hätte schämen müssen, nein, Viola sah als einstiges Mannequin blendend aus, hatte eine tolle Figur, dazu Charme und Niveau und es gab reichlich Verehrer, die alles für sie getan hätten.
Genau das aber war der Punkt: Viola hatte sich neu verliebt und besaß genug Unverfrorenheit, aus einer Trennung Kapital schlagen zu wollen. Hubertus nun war trotz seines Reichtums als Geizhals verschrien. Eine Marotte vieler Wohlhabender. Freilich dachte er nicht daran, eine Scheidung von Viola mit seinen Millionen zu finanzieren.
Verheiratet war das Paar nur noch auf dem Papier. Die Verhandlungen zwischen ihren Scheidungsanwälten erstreckten sich schon über geraume Zeit. Der harte Kampf ging ums Geld. Viola wusste genau, dass sie nach einer Scheidung von Hubertus gute Aussichten auf ein finanziell gesichertes, unbeschwertes Leben hatte. So war sie verblüfft, als Hubertus aus heiterem Himmel plötzlich einer gütlichen Trennung zustimmte.
"Wir haben unsere Gemeinsamkeit mit einem großen Essen begonnen", sagte Hubertus eines Morgens zu Viola, "und ich möchte, dass auch unsere Trennung mit einem fürstlichen Mahl endet!" - "Du überrascht mich immer wieder", sagte Viola erstaunt, "toll, eine Trennung in Güte ist allemal besser, als das Waschen schmutziger Wäsche vor Gericht." - "Das habe ich mir auch überlegt, du hast recht", antwortete Hubertus außergewöhnlich freundlich, "lieber ein rasches Ende, als ein langer, schmutziger Kampf vor fremdem Richter." - "Und dann denk an die Presse", warnte Violah, "da bleibt nicht ein gutes Haar an der ganzen Geschichte!" Hubertus sah Viola fröhlich an: "Daran denke ich natürlich. Also, ich bin mit all deinen Vorschlägen einverstanden. Vorbei ist vorbei und wir wollen unsere Trennung nicht ewig verzögern". - "Ich fasse es nicht", freute sich Viola, "aber ich wußte immer, du bist ein Mann von Welt!" - "Was hältst Du von unserem "Atrium-Hotel"", schlug Hubertus vor, "wir benutzen am kommenden Freitag unsere Hochzeits-Suite abends ab 19 Uhr. Nach dem Essen wollen wir dann ab 21 Uhr eine kleine Abschiedsparty für unsere engsten Freunde geben". Er sah in seinen Terminplaner, schlug sich an die Stirn und sagte: "Oh, am Freitag wird es knapp, aber - - - doch, doch, das werde ich schaffen. Würdest du die Vorbereitungen und Einladungen übernehmen?" - "Selbstverständlich tue ich das gern", frohlockte Viola. Sie konnte seinen plötzlichen Sinneswandel kaum glauben, aber egal, endlich war es nun doch soweit! Bald war sie frei - und reich!
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"Hallo Viola", sagte Hubertus ins Handy, "entschuldige bitte, aber ich habe mich unterwegs leider doch etwas verspätet und stecke nun im Stau. Abholen kann ich Dich nicht mehr, ich fahre direkt ins "Atrium". Könntest Du schon allein in die Suite fahren? Lange kann es nicht mehr dauern, ich bin dann auch gleich da." - "Ist in Ordnung", lachte Viola und scherzte, "wir wollen uns doch ohnehin trennen, weshalb sollten wir da noch gemeinsam Auto fahren?!"
Als Viola ankam, war der Tisch in ihrer Suite bereits fürstlich gedeckt. Viola wartete geduldig, denn sie kannte ihren Mann als äußerst zuverlässig. Bald klopfte es an der Tür und ein Boy von der Rezeption des "Atrium" stand im Flur und sagte: "Gnädige Frau, es tut uns leid, aber ein seltsamer Besucher besteht unbedingt darauf, Sie zu sprechen und Ihnen eine Botschaft zu überbringen." - "Wieso seltsam?" Viola war neugierig. "Wer ist es denn?"
"Ein alter Bettler", flüsterte der Boy unter vorgehaltener Hand, "und er lässt sich nicht abweisen." - "Ein Bettler?", sagte Viola erstaunt. "Ja", nickte der Boy, "dieser Bettler hockt seit Wochen vor unserer Tür herum und heute behauptet er, dass er den Auftrag habe, eine Nachricht für eine gewisse Frau Viola v. Kahmen in ihre Suite persönlich zu überbringen."
Viola war es gleichgültig, wer ihr etwas brachte. Sie war neugierig auf die seltsame Gestalt und die angekündigte Botschaft. "Schicken Sie den Mann einfach herauf", bestimmte sie und so bekam der Bettler freien Eintritt. Einige Minuten später stand er vor Viola, deutete eine leichte Verbeugung an, sagte aber keinen Ton. Als sie die Tür geschlossen hatte, fragte Viola barsch: "Nun? Was gibt es denn so Wichtiges zu überbringen?" Sie sah erstaunt auf die dicke Schminke im Gesicht des Mannes und wunderte sich über die große dunkle Sonnenbrille. Seine Hände steckten in schmutzigen Handschuhen. Viola wurde ungeduldig. "Na, nun sagen Sie schon, was haben Sie zu.........." da sah sie plötzlich erschrocken in den Lauf einer Pistole. "Das hier", sagte der Bettler. Der Schuss traf genau in ihr Herz. Viola war sofort tot.
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Hubertus v. Kahmen, der sich für seine Verspätung fast eine Stunde mit einer Flasche Champagner entschuldigen wollte, fuhr gemeinsam mit dem Zimmerkellner im Lift nach oben in seine Suite. "Die gnädige Frau erwartet Sie schon ungeduldig, Herr v. Kahmen. Sie hatte vorhin noch seltsamen Besuch." - "Nanu? Seltsamen Besuch?" Hubertus staunte, "von wem denn?" - "Komischerweise von einem alten Bettler, dem Kerl, der seit Wochen hier vor unserem Eingang hockt und die Gegend verunstaltet!" - "Was, dieser alte Bettler?" Hubertus konnte es nicht fassen. "Nun aber rasch", sagte er zum Kellner, "unsere Gäste kommen bald und ich möchte doch vorher noch in Ruhe mit meiner Frau essen." Der Zimmerkellner öffnete die Tür, blieb an Eingang stehen und rief "oh Gott". Dann sah auch Hubertus seine Frau Viola auf dem Teppichboden liegen. Der Kellner bückte sich zu ihr und sah das blutige Loch in ihrer Brust. "Was ist mit ihr", fragte Hubertus aufgeregt. Der Kellner sah betroffen auf. "Ich glaube, Herr von Kahmen, die gnädige Frau ist tot", sagte er dann leise und murmelte "mein Beileid." - "Tot? Nein", schrie Hubertus, "das kann doch nicht wahr sein! Was war hier los?" - "Der verdammte Bettler", sagte der Kellner tonlos und plötzlich sehr bestimmt: "Polizei". - "Ja, die Polizei und einen Arzt, rasch, rasch. Beeilen Sie sich!" Die Geschäftsleitung des "Atrium-Hotels" alarmierte sofort die Polizei. Die Mordkommission.
Natürlich wusste das gesamte Hotelpersonal von dem Bettler. Die Leute an der Rezeption und der Boy konnten dann bestätigen, dass dieser komische alte Mann von der Straße vorhin zuletzt bei der gnädigen Frau war. "Wo steckt der Mann jetzt", fragte Kommissar Böhler, "fragen wir ihn doch einfach selbst." - "Draußen neben unserem Haupteingang", antwortete irgendjemand der Angestellten, "da sitzt er ja immer." - "Na, dann wollen wir ihn uns mal ansehen", sagte Böhler, "herein mit ihm!"
Doch der Bettler war nicht an seinem Platz und auch von seiner Decke war nichts mehr zu sehen. Der Mann war wie vom Erdboden verschluckt. Niemand wusste wie er hieß und wo er seine Nächte verbrachte. Sein Platz vor dem Hotel war und blieb leer. Auch an den nächsten Tagen ahnte wohl jeder, dass er nie mehr zurückkommen würde.........
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Die Suche nach dem Bettler lief auf Hochtouren. Schließlich war die Familie Hubertus v. Kahmen bekannt und so erschienen jetzt in den Zeitungen Artikel und Fotos aus der Privatsphäre dieser wohlhabenden Leute.
Berta Brandes, die Toilettenfrau aus der Bahnhofstoilette hatte ihren freien Vormittag und saß mit ihrem Mann am Frühstückstisch. Ihr Albert hielt die Zeitung in Händen und las. Berta aber sah auf der anderen Seite ein Foto von Hubertus v. Kahmen. "Mord im Hause v. Kahmen" stand unter dem Bild. Berta Brandes stutzte und riß ihrem Mann unvermittelt die Zeitung aus der Hand. "Mensch Albert, du - den Mann hier kenne ich persönlich", sagte sie aufgeregt zu ihrem Mann. "Woher denn?", fragte Albert Brandes gelangweilt. - "Solchen gut aussehenden Menschen vergisst man doch nicht, Albert. Dieser Hubert hier war in letzter Zeit oft auf meinem Klo!" Berta war stolz. - "Nanu", sagte Albert verwundert, "was macht denn solch ein reicher Kerl jeden Morgen auf einem Bahnhofsklo? Das ist schon merkwürdig." - "Der kam jeden Morgen mit einer dicken Aktentasche, ging in eine Zelle und kam nie wieder raus", erklärte Berta, "natürlich habe ich bei den vielen Menschen nicht auf jeden geachtet, aber der sieht ja wirklich toll aus. Abends habe ich ihn auch oft gesehen. Ich habe gestaunt, wie regelmäßig der morgens und abends da unten war. Man hätte die Uhr danach stellen können". - "Ja, ja,", sagte Albert, "die Menschen sind oft komisch..." - "Ja, na und", schüttelte Berta den Kopf, "fällt dir nichts daran auf?" - "Was soll mir daran schon auffallen", fragte Albert, "hast Du weiter keine Sorgen? Vielleicht hat der Kerl eine Freundin, von der keiner was wissen darf und da hat er sich eben auf deinem Klo verkleidet." - "Mensch Albert! Genau, das ist es", wurde Berta aufgeregt, "du, da fällt mir noch was ein. Da war noch dieser seltsame alte Bettler". - "Etwa der, den sie jetzt suchen?" Albert wurde hellhörig. - "Ja, ich glaube der ist es", sagte Berta, "der kam auch öfter am Tag und zupfte vor dem Spiegel ewig an seinem Gesicht rum. Abends ging er in die gleiche Zelle, wo dieser - - Albert! - - - Jetzt wird mir einiges klar!" Berta dachte angestrengt nach und fragte dann: "Was meinst du, Albert, ob wir wohl eine kleine Belohnung bekommen, wenn wir mit dieser Geschichte zur Polizei gehen?" - "Wieso Polizei? Die haben andere Sorgen und lachen Dich nur aus. Du siehst wieder Gespenster, Berta". Doch dann lockte auch ihn das Geld: "Aber wenn du meinst, dass es vielleicht Kohle gibt, - ein nettes Sümmchen, versuchen können wir es ja."
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"Na, das ist ja hochinteressant", sagte Kommissar Böhler, "weshalb sind Sie denn nicht gleich damit gekommen? Der Bettler und Hubertus v. Kahmen ein und dieselbe Person? Das wäre ja ein Ding aus dem Tollhaus! Und beide waren täglich bei Ihnen zu Gast?" - "Ja, natürlich, Herr Kommissar, und das über Wochen", sagte Berta Brandes mit feurigen Wangen, "der eine kam und der andere ging und es lag immer fast eine halbe Stunde dazwischen wo das Klo blockiert war. Nie habe ich beide gleichzeitig gesehen." - "Gut", pfiff der Kommissar durch die Zähne, "wir werden das natürlich sofort überprüfen." - "Und das Geld?" - "Welches Geld? Ach so, Sie meinen die Belohnung", lachte der Kriminalist, "da ist noch nichts bewiesen, aber wenn Ihr Hinweis richtig sein sollte, steht Ihnen die Belohnung selbstverständlich zu."
Nicht lange danach bekamen Berta und Albert Brandes ihre Belohnung. Bei einer überraschenden Haussuchung fand man in der Villa v. Kahmen sogar noch die Maske mit dicker Schminke nebst Sonnenbrille, Perücke und langem Bart.
Hubertus v. Kahmen und der Bettler waren identisch. Der steinreiche Hubertus aber war nun arm dran, denn in diesem Fall hatte er sich gründlich verrechnet...............