Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Sheryll arbeitete an ihrem Notebook, um die letzten Kalkulationen für das neue Projekt ihres Arbeitgebers auszuarbeiten, jedoch war es ihr dabei unmöglich, sich zu konzentrieren. Denn neben ihr saß ein älterer Herr mit einer FAZ auf dem Schoß und weit geöffnetem Mund, aus dem kaum zu ertragende kreissägenartige Geräusche klar und deutlich zu vernehmen waren. Sheryll war sichtlich genervt und überlegte, wie sie dieser Qual, die bereits kurz nach der Ausfahrt aus dem Kölner HBF begonnen hatte, ein Ende bereiten könnte.
So versuchte sie es durch lautes Räuspern. Sichtlich erleichtert lächelte sie, als diese Methode Erfolg zeigte.... der Mann wachte auf, griff zu seiner Zeitung und vertiefte sich in deren Lektüre. Sheryll lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Zahlen - doch kaum fünf Minuten später sank neben ihr eine Zeitung zu Boden und kurz darauf begann es erneut zu sägen, nur noch etwas lauter als beim ersten Mal. Diesmal täuschte Sheryll einen heftigen Hustenanfall vor. Es wirkte. Der alte Herr neben ihr schrak hoch, nahm die Zeitung vom Boden auf und blätterte so lange, bis er die Seite wiederfand, wo er stehengeblieben war. Sheryll atmete einen Moment lang durch, bis die Tortour von neuem los ging. Nein - jetzt hielt sie es nicht mehr aus. Leider war der ICE brechend voll, so dass ein Platzwechsel aussichtlos schien - aber mit der Konzentration war es endgültig vorbei, und so klappte Sheryll wütend den Laptop zu, holte sich einen Apfel aus ihrer Tasche - überlegte mit einem verstohlenen Blick zur Seite einen Moment lang, ob es nicht mittelfristig Hilfe bringen würde, wenn sie den Apfel..... der weit geöffnete Mund ihres Sitznachbarn lud regelrecht dazu ein...., nein, sie entschloss sich dann doch, lieb und nett zu sein und biss so herzhaft sie konnte in ihren Apfel, um ihren Ärger an diesem unschuldigen Objekt auszulassen. Es rächte sich. "Verdammt, das darf doch nicht wahr sein......" murmelte sie, als sie mit Erschrecken feststellte, dass ihre Zahnkrone rechts oben verdächtig zu wackeln begonnen hatte. Auch das noch! Nein, das war ja nun wirklich nicht nötig gewesen!
Sherylls Laune war auf dem Nullpunkt, als der ICE in den Frankfurter HBF einlief und unmerklich zum Stehen kam. Der Herr neben ihr schnarchte immer noch mit unveränderter Mundposition.
Sheryll stand auf, griff nach ihrer roten Strickjacke und der Tasche, nahm das Notebook unter ihren Arm und kletterte über den schnarchenden Stein des Anstoßes Richtung Mittelgang. Der Stein wurde dann endgültig wach, lächelte sie freundlich an und schickte sich ebenfalls zum Aussteigen bereit zu machen. "Hör bloß auf zu grinsen!" dachte Sheryll, immer noch ärgerlich.
Zur gleichen Zeit genoss Karl noch immer den Blick aus seinem Wohnzimmerfenster auf die alte Burg. Die Ruhe tat ihm gut, aber er wusste, sie würde nicht lange währen.
"Papa, Rolf hat mir meine Puppe weggenommen und tunkt ihren Kopf ins Klo!" Emma stand tränenüberströmt vor ihm. "Halt die Klappe, du alte Petze!" tönte eine sehr laute Jungenstimme aus dem Bad. - "Könnt ihr bitte mal ruhig sein, ich muss meine Hausaufgaben machen!" ertönte Jonathans Stimme aus dem Zimmer nebenan. In dem Augenblick öffnet sich die Haustür. "Papa, Papa, schau mal, was ich gefunden habe! Hier - der hat keine Eltern mehr!" Bobby hielt seinem Vater ein winselndes wuscheliges kleines Hundchen entgegen. Mit einemal waren Puppe, Wut und Hausaufgaben vergessen und Bobby war als stolzer Mittelpunkt umringt von seinen beiden Brüdern und seiner kleinen Schwester. "Oh, wie süß - wir nennen ihn Schnuffi!" rief Emma und streichelte Schnuffis zerzaustes Fell.
"Stopp!" Karl wurde betont energisch. "Bobby, wo hast du dieses Tier her?" - "Ich habe ihn hinten beim Steinbruch gefunden, er gehört niemandem, er war ganz allein!" - "Wie oft habe ich euch verboten, beim Steinbruch zu spielen?" Karl wurde jetzt richtig ärgerlich. "Wie oft habe ich euch ermahnt, wie gefährlich es dort ist! Und der Hund - natürlich gehört er jemandem, und wahrscheinlich wird er bereits schmerzlich von seinem Besitzer vermisst." - "Und was wenn nicht?" wollte Emma wissen. - "So zerstaust und schmutzig wie der ausschaut, hat der bestimmt niemanden, der sich um ihn kümmert", meinte Jonathan. "Lasst uns ihn baden!" - "Auf gar keinen Fall können wir den Hund behalten! Wer sollte sich um ihn kümmern?"- "Bitte!!!!!! Wir alle kümmern uns um ihn!!" ertönte es aus vier Mündern gleichzeitig. "Nein! Außerdem wisst ihr, dass Frau Nolte eine Hundeallergie hat - kommt also gar nicht in die Tüte, Ende der Diskussion!" Nach einem flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr fügte Karl hinzu: "Heute ist es zu spät - von mir aus darf er heute Nacht hierbleiben, aber morgen rufe ich das Tierheim an sowie die Tierärzte in der Gegend, und dann werden wir herausfinden, wem der Hund gehört!" Karl wurde langsam nervös. Er hatte gleich Notdienst und musste in die Praxis - allerdings war Frau Nolte immer noch nicht da, die Hausfee.
Seit dem Tod seiner Frau vor 3 Jahren hatte es Karl alles andere als leicht. Seine drei Jungen im Alter von 12, 9 und 7 Jahren sowie die 5-jährige Emma waren ein Fulltime-Job - neben dem er allerdings noch seine Arztpraxis zu bewältigen hatte. Frau Nolte war eine Perle für ihn gewesen in den vergangenen Jahren - aber die Mutter ersetzen konnte sie natürlich nicht. Außerdem war sie nicht mehr die Jüngste und ihre Kräfte ließen langsam nach - wie gern wäre sie in ihren wohlverdienten Ruhestand gegangen, aber sie wollte diese Familie nicht einfach im Stich lassen, dazu war sie ihr zu sehr ans Herz gewachsen. So kam sie täglich und kümmerte sich um Haushalt und Kinder, solange Dr. Wegmann in seiner Praxis war.
Der Schlüssel drehte sich im Schloss und Frau Nolte betrat das Haus. "Mein Auto ist nicht angesprungen, und ich musste mich von meiner Nachbarin fahren lassen, die ist allerdings erst vorhin von der Arbeit heimgekommen," sagte sie, "hab's echt nicht früher geschafft.... Sagen Sie, Herr Dr. Wegmann, was ist DAS denn?" - "Das ist ein Hund!" klärte der 7-jährige Rolf die entsetzte Dame auf. "Hast du gedacht, das sei ein Känguruh?" meinte Emma dazwischen. Bobby gackerte wie eine Ente: "Ein Känguruh, jau, und wo hat der Schnuffi seinen Beutel?" - "Wenn er einen Beutel hätte, könnte ich meine Puppe reinsetzen! Rolf, WO IST MEINE PUPPE?" - Rolf holte sie aus dem Bad, ihre Haare trieften noch von dem unartgerechten Bad im Klo und hinterließen nasse Spuren auf dem Teppichboden. "Tante Nolte, du föhnst sie mir doch wieder trocken?" fragte Emma. "Kannst du den Lockenstab nehmen und ihr Locken reinföhnen?" - "Der Hund geht morgen wieder an seinen Besitzer zurück", beruhigte Karl Frau Nolte, bevor er mit einem Seufzer das Haus verließ und sich zu seiner Zahnarztpraxis aufmachte. Diese abendlichen Notdienste waren immer am schlimmsten. Es war ihm schon unwohl, seine Kinder tagsüber so lange allein lassen zu müssen, obwohl er sie bei Frau Nolte in guten Händen wusste - aber bei seiner Rasselbande wusste man einfach nie, was im nächsten Augenblick passieren würde.
Unterdessen war Sheryll in ihrer Wohnung angekommen und hatte Hunger. Im Kühlschrank stand noch ein Rest Tomatensalat, dazu briet sie sich ein Steak. Es war sehr praktisch, in dieser Wohnung mitten in der Stadt zu wohnen - sowohl den Bahnhof als auch ihre Firma erreichte sie von hier aus bequem zu Fuß. Ein bisschen Rotwein war auch noch da, und so setzte sich Sheryll an den Esstisch, um ihren Hunger zu stillen, bevor sie sich noch einmal an die Kalkulation begeben wollte. Während des Essens passierte dann das Malheur und die durch den wütenden Apfelbiss locker gewordene Krone brach ganz ab. "Verdammt und zugenäht!" entfuhr es Sheryll. Inzwischen war es 19 Uhr vorbei und es blieb nur der zahnärztliche Notdienst, um ihr helfen zu können, morgen nicht halb zahnlos vor ihrem Chef zu stehen.
Sie suchte die Tageszeitung, um die Nummer des diensthabenden Arztes herauszufinden. Wo war bloß die Zeitung? Sie fand sie weder im Wohnzimmer noch im Schlafzimmer noch in der Küche. Gibt es etwas Ärgerlicheres, als es eilig zu haben, noch einen Haufen Arbeit vor sich und eine Zeitung suchen zu müssen, die vom Erdboden verschluckt war? Schließlich fand sie sie im Flur neben ihrer Jacke, wo sie offensichtlich heruntergeflattert war. Der Anblick der Zeitung erinnerte sie unvermittelt an einen gewissen älteren Herrn mit weit geöffnetem Mund - ja, der war ja überhaupt an allem Schuld!
Ungeduldig suchte sie nach der abgedruckten Telefonnummer und machte sich wenig später auf den Weg in die Praxis.
Sheryll saß mit ihrer besten Freundin Betty im Café und war ganz aus dem Häuschen. "Meine liebe Sheryll, wer hätte gedacht, dass du, ausgerechnet du, eines Tages freiwillig und gerne zum Zahnarzt gehen könntest...." scherzte Betty, nachdem Sheryll ihr aufgeregt von ihrem nächsten Termin bei Dr. Wegmann erzählte, der jetzt die weitere Behandlung ihrer zu erneuernden Zahnkrone übernommen hatte.
"Betty, der ist so süüüß, du glaubst das gar nicht. Stell dir vor, nun stell dir das doch bloß mal vor, Betty, da praktiziert ein Zahnarzt schon mehrere Jahre in deiner Stadt und du dusselige Kuh gehst die ganzen Jahre hindurch zum falschen......und du ahnst das nicht einmal!" -
"Unsere Sheryll will sich einen reichen Zahnarzt angeln und ein bequemes Leben genießen.....", Betty machte es sichtlich Spaß, Sheryll ein bisschen aufzuziehen.
"Ach, Quattttsch!" Sheryll wurde unwillig. "Aber du, Betty, der ist ja sooo nett. Heute Nachmittag habe ich meinen nächsten Termin!" - "Und was machst du, wenn die neue Krone drauf ist? Deine übrigen Zähne sind doch leider ganz OK......".
Sherylls Gesichtsausdruck verdunkelte sich. "Ob ich ihn zum Essen einladen kann, oder meinst du, das ist zu aufdringlich?" - "Mensch, Sheryll, du weißt ja nicht mal, ob er überhaupt verheiratet ist!" - "Einen Ring trug er keinen!" - "Nicht jeder Ehemann trägt einen Ring! Warum lädtst du ihn heute Abend nicht auf ein Bier ins Lokal "Zur Krone" ein? Passt doch!" - "Betty - nimm mich doch bitte ein einziges Mal ernst!" - "Aber das tu ich doch, Liebling, in dem Lokal ist es echt total gemütlich!" - "Aber ich kann ihn doch nicht einfach so ansprechen.....". - "Tu es oder bereu es für den Rest deines Lebens!" Betty kannte die Kompliziertheiten ihrer Freundin mittlerweile sehr gut und wollte mit diesem Satz das Thema beenden. "OK - ich mach's!"
Karl war einigermaßen erstaunt, als die junge Patientin, die er kürzlich als Notfallpatientin versorgt hatte und deren Weiterbehandlung er übernommen hatte, ihn an diesem Tag fragte, ob sie ihn abends auf ein Glas Bier einladen dürfe. Er lehnte freundlich ab, allerdings ohne ihr den Grund zu verraten, dass er in seiner familiären Situation abends grundsätzlich nicht einfach so auf ein Glas Bier weggehen konnte.... Sheryll nahm es als blanken Korb und wünschte sich in Grund und Boden zu versinken. Wie gut, dass dies ihr letzter Termin war - sie würde fortan wieder zu ihrem bisherigen Zahnarzt gehen, so viel stand fest.....
Ziemlich frustriert schlenderte Sheryll durch die Innenstadt und sah sich die Auslagen in den Geschäften an, um sich abzulenken. Hauptsache, Betty würde ihr jetzt nicht über den Weg laufen, aber das war eher unwahrscheinlich mitten in der Stadt. Eine Großstadt hatte eben auch ihre ganz großen Vorteile!
Sie blieb vor einem Spielwarenladen stehen, in dem ein wunderschönes reich ausgeschmücktes Puppenhaus ausgestellt war - es schien nichts zu fehlen an liebevollen Details, angefangen von Schaukelpferdchen, Nachttopf, Sofakissen, Nudelrolle hin über elektrische Beleuchtung in jedem Zimmer. Sie genoss den Anblick und vergaß darüber ein wenig ihren Frust. Plötzlich zupfte sie jemand hinten am Kleid: "Tante, Kaufst du mir den da?" Verwundert blickte Sheryll sich um und schaute in ein Paar unschuldig-fragender Kinderaugen eines vielleicht 6- oder 7-jährigen Buben, der auf einen im Schaufenster befindlichen knallgelben Ball zeigte. Er hatte einen kleinen wuscheligen Hund bei sich. "Ja, wer bist du denn?" fragte Sheryll ihn lächelnd. "Ich heiße Bobby, und du?"
"Wo ist denn deine Mama, Bobby?" Sheryll wunderte sich, da keine Mutter in Sichtweite zu sein schien. Es kam ihr allerdings sehr merkwürdig vor, dass ein so kleiner Junge offensichtlich ganz allein durch die Frankfurter Innenstadt spazierte.
Er antwortete nicht sofort. "Bobby, wo ist denn deine Mama? Wer passt auf dich auf?" wiederholte Sheryll ihre Frage.
Bobby schaute nach oben. "Sie schaut mir zu, sie sitzt auf einer Wolke im Himmel und passt von dort aus auf mich auf!"
Sheryll war ratlos - was sollte sie jetzt tun? "Und wo ist dein Papa?" - "Auffer Arbeit!" - "Wo wohnst du denn, Junge, und wie bist du hierher gekommen?" - "Na, mit dem Bus natürlich, was dachtest DU denn?!" erwiderte Bobby etwas verwundert. "Weiß dein Papa, dass du allein mit dem Bus in die Stadt fährst?" fragte Sheryll und kniete zu dem Buben herunter, um ihm direkt in die Augen sehen zu können. Der senkte seinen Blick und flüsterte kaum hörbar: "Neee - ausgebüchst!"
Au weia - Sheryll Sheryll, dachte Sheryll, was machste denn jetzt bloß mit diesem Kind.... au weia!
Wenn Betty jetzt hier wäre, würde sie sagen, sie solle ihn am nächsten Polizeipräsidium abgeben. Betty war immer so vernünftig..... aber so ein kleiner Bub, und den zur Polizei bringen, der würde doch sicherlich furchtbare Angst bekommen.
"Weißt du den Weg zurück nach Hause, wo du wohnst?" fragte Sheryll.
"Na klar!" Bobby Stimme wurde wieder laut und kräftig.
"Gut!" begann Sheryll. "Dann begleite ich dich jetzt nach Hause!"
In diesem Moment war sie froh, von ihrem Arbeitgeber für den Rest des Nachmittags a ufgrund ihres Zahnarzttermins beurlaubt worden zu sein, so hatte sie wenigstens Zeit... Bobby steckte daraufhin vertrauensvoll sein Händchen in ihre Hand und führte sie zur Haltestelle zum Bus Richtung Neu-Isenburg, während Schnuffi brav hinterhertrippelte. Sheryll löste Fahrkarten für sie beide und ließ sich jetzt überraschen, wohin die Fahrt wohl gehen würde...... "Wie lange müssen wir denn fahren?" fragte sie den Buben. "Oh, lange!" antwortete Bobby mit wichtigtuerischem Gesichtsausdruck.
"Sag mal, warum bist du eigentlich ausgebüchst? Machst du sowas öfters?" fragte Sheryll und bemühte sich um einen ernsten Tonfall.
"Nö!"- "Ja, was, "nö"? Warum?" - "Ach, ich soll Schnuffi abgeben - Papa ist so gemein!" - "Ach...." - "Er hat gesagt, wir würden uns doch nicht um den Hund kümmern, und Frau Nolte hat eine Hundeallergie." - "Oh, das tut mir Leid, sicher hast du ihn sehr gern, deinen Hund.....". Bobbys Augen füllten sich langsam mit Tränen. "Mein Schnuffi ist so lieb." Und er streichelte den kleinen wuscheligen Kerl, der zu seinen Füßen saß und aufmerksam zu ihm aufblickte. - "Und deswegen bist du ausgebüchst?" - "Ja. - Tante, hilfst du mir, dass wir Schnuffi behalten dürfen? Bitte bitte bitte!!!!" - "Jetzt fahren wir erstmal zu dir nach Hause!"
Dr. Bender horchte in sich hinein, und was er da hörte, das war durchaus Sehnsucht nach einer Frau. Diese junge Patientin vorhin im Zahnarztstuhl - sie hatte ihm wirklich gefallen. Sie schien ein liebes und gutmütiges Wesen zu haben. Wie gern hätte er ihre Einladung angenommen - aber es war ihm nicht möglich. Und es hätte auch keinen Sinn gehabt - welcher Frau sollte er vier Kinder der wildesten Art zumuten, die würde ja rückwärts die Flucht ergreifen............ In dem Augenblick erreichte ihn ein Anruf von daheim.
"Herr Dr. Bender?" - "Frau Nolte, was ist passiert?" Karl wird unruhig, da es nicht Frau Noltes Art war, ihn in der Praxis anzurufen, es sei denn in einem ganz besonders dringenden Fall.
"Bitte regen Sie sich nicht auf - es geht um Bobby. Er ist seit ein paar Stunden weg, mit dem Hund. Ich dachte bisher, sie wären nur draußen spielen, aber er ist immer noch nicht zurück, dabei hatten wir vereinbart, alle zusammen Pfannkuchen zu backen. Ich bin ein wenig in Sorge, weil das doch so gar nicht Bobbys Art ist. Hat er sich vielleicht bei Ihnen gemeldet?" - Karl erschrak und versprach, sobald wie möglich heimzukommen. Dummerweise hatte er jetzt gerade einen Patienten für eine aufwendige Wurzelbehandlung vorbereitet, so dass er das jetzt noch zuende machen musste, bat jedoch seine Arzthelferin, alle anderen Termine zu verschieben.
Der Vorfall war für ihn die Bestätigung dafür, dass er es gar nicht wagen durfte, an das Thema Frauen zu denken - er hatte so viel Verantwortung für seine vier Kinder zu tragen, und er liebte jedes einzelne. Daran musste er lernen sich genügen zu lassen.
Plötzlich stand Bobby von seinem Sitz im Bus auf und zog Sheryll Richtung Tür.
"Wir müssen aussteigen!" Sheryll sah sich um. Es war ein ruhiger und recht vornehmer Villenvorort mit alten Gärten, die von hohen Mauern zur Straße hin abgegrenzt waren. "Komm, Tante, wir wohnen da hinten am Ende der Straße!"
Sie traten durch ein großes schwarzes schmiedeeisernes Tor in ein parkähnliches Grundstück ein, das Sheryll sofort gefiel. Ein etwa zwölfjähriger Junge kam auf sie zugerannt: "Bobby, da bist du ja endlich! Frau Nolte sucht dich überall, sie hat auch schon Papi angerufen!" Hinter Jonathan kamen Rolf und Emma angelaufen: "Bobby, Bobby, warum hast du Schnuffi mitgenommen?" fragte Emma sichtlich erregt. "Dir gehört Schnuffi nicht allein, glaub das bloß nicht, Schnuffi gehört mir genauso, gib ihn mir, ich will jetzt mit ihm spielen!" - "Aber ICH habe ihn gefunden!" beharrte Bobby. "Wo warst du denn?" wollte Rolf wissen, "und warum hast du mir nicht Bescheid gesagt - ich wäre mitgekommen!"
Jetzt erschien eine ältere Frau im Hauseingang und lief dem Grüppchen mit hochrotem Kopf entgegen.
"Wegen euch bekomme ich eines Tages noch einen Herzinfarkt!" rief sie aus.
"Ich nehme an, Sie sind die Frau Nolte, richtig?" fragte Sheryll und reichte der verdutzten Frau die Hand. "Guten Tag, mein Name ist Sheryll Mendel, ich habe diesen kleinen Racker in der Frankfurter Innenstadt gefunden!"
Frau Nolte erschrak. "Bobby, wie bist du auf die Idee gekommen, bis in die Stadt zu fahren?" - "Ich WILL nicht, dass ihr mir Schnuffi wegnehmt!" - "Schnuffi ist auch MEIN Hund!" ertönte wieder Emmas Stimme dazwischen. "Guten Tag Frau Mendel, bitte treten Sie doch näher - ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet, dass sie den Lausbuben persönlich nach Hause gebracht haben! Bitte kommen Sie ins Haus - ich lade Sie auf eine Tasse Kaffee ein, den haben Sie sich gut verdient!" - "Nein!" bettelte Bobby, "die Tante soll mit uns zusammen Pfannkuchen backen, die ist liiiiieb. Machst du das, Tante?" Sheryll lächelte sichtlich verlegen. "Ja, ist OK!" rief Rolf, "einverstanden!" - "Kannst du Pfannkuchen mit Himbeergelee?" wollte Emma wissen. - "Ich zeig dir, wo die Küche ist!" Jonathan meinte, als der Ältere vorangehen zu müssen. Sheryll folgte wie hypnotisiert.
Unterdessen versuchte Frau Nolte, Dr. Bender anzurufen, aber er schien schon unterwegs zu sein, und sein Handy hatte er heute Mittag in der üblichen Eile zuhause vergessen.
Während Sheryll sich zusammen mit gleich acht helfenden Händchen ans Pfannkuchenbacken begab und irgendwie kaum wusste wie ihr geschah - dabei aber richtig Spaß hatte - wunderte sich Frau Nolte nur. Sie wunderte sich so lange, bis ihr siedend heiß einfiel, dass sie dringend noch etwas vom Supermarkt besorgen musste. In dem ganzen Tumult um Bobby hatte sie das glatt vergessen - und wenn sie sich jetzt nicht beeilte, dann würde es morgen kein Müsli und kein Brot auf dem Frühstückstisch geben..... "Kann ich Sie mit den Kindern für eine Viertelstunde allein lassen?" fragte sie Sheryll, ihr die auf eine Katastrophe zusteuernde Problematik schildernd..... "Geh ruhig, wir passen auf die Tante auf!" meinte Emma zuversichtlich, bevor sie mit ihrem Finger in einem scheinbar unbeobachteten Moment durch die Teigschüssel fuhr. "Emma hat von dem Teig genascht!" rief Rolf prompt voller Empörung. "Bääääh, bist ja nur neidisch, dass du's nicht getan hast!" - "Seid nicht so albern!" mischte sich Jonathan ein, der seine Rolle als Ältester immer mehr genoss. Bobby hockte auf der Eckbank und neben ihm saß Schnuffi. "Ich habe Hunger, wann seid ihr endlich fertig mit den Pfannkuchen?" Sheryll dachte insgeheim: "Wenn ich das Betty erzähle, die glaubt mir das nie..."
Ca. 10 Minuten später saßen alle fünf am Tisch, ein riesiger Berg Pfannkuchen vor sich und ein großes Glas Himbeergelee daneben. Jeder hatte einen Teller vor sich - ein anderer Teller war dank Rolfs Mithilfe leider in die Brüche gegangen und fristete sein Dasein im Abfalleimer. Schnuffi musste unter dem Protest der Kinder unterm Tisch Platz nehmen, Sheryll bestand darauf....
Karl fuhr mit seinem Mercedes durch die Toreinfahrt und parkte zügig vor der Garage, bevor er schnellen Schrittes ins Haus hinein lief. "Frau Nolte?" Unterwegs war ihm aufgefallen, dass er sein Handy zuhause liegen gelassen hatte..... so hatte er eine sehr unruhige Fahrt durch den Frankfurter Feierabendstau hinter sich, und jetzt hoffte er nichts mehr, als dass Bobby wieder daheim war. "Frau Nolte?" Warum antwortete sie nicht?
"Papa, hier, wir sind in der Küche!" ertönte die Stimme seines Ältesten. Karl ging zur Küche, öffnete die Tür, und so passierte es, dass zwei erwachsenen Menschen beim gegenseitigen Anblick buchstäblich der Mund offen stehen blieb - doch diesmal hatte es absolut nichts mit schnarchender Müdigkeit zu tun......... So groß war das Erstaunen Karls, eine solch friedliche Szene in seiner Küche wahrzunehmen und ausgerechnet SIE mitten drin, die Frau, an die er den halben Tag lang gedacht hatte....... während Sheryll der Gedanke durch den Kopf schoss: "Ob Betty mir das jemals glauben wird?"
Ab diesem Tag begann für sechs Menschen und einen Hund ein ganz neues Leben, und Frau Nolte war sehr erleichtert und froh darüber........