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德文短篇:Humaner Abfall

时间:2011-09-29来源:互联网 字体:[ | | ]  进入德语论坛
(单词翻译:双击或拖选) 标签: 德文短篇

1
Als Karl zum Fenster hinausschaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnellstraße beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Sie musste zuerst zu einer Wechselstube. Ihre Dollar konnte sie hier nicht gebrauchen. Sie blickte sich suchend am Flughafen Frankfurt um und zu ihrer Erleichterung stand dort ein Wechselautomat. Diese waren längst weltweit gegen die Wechselstuben mit menschlicher Besetzung ausgetauscht worden. Sie befahl dem Automaten: "Dollar in Euro!" Seine Knöpfe und Displays begannen daraufhin in einem fahlen Neongrün zu leuchten. Jetzt würde sie erst mal genug Geld haben, um in Deutschland zurecht zu kommen.
Karl konnte seinen Blick noch immer nicht vom Alten Turm abwenden. Sein schwarzes Haar glänzte in der Sonne. Es klopfte an der Zimmertür und ein weißhaariger alter Mann in feiner Kleidung trat ein, ohne auf ein Herein von Karl zu warten. "Bist du soweit?" Karl nickte. Der Weißhaarige machte ein Doppelkinn und hob seine Augenbrauen. Dann drehte er sich um und ließ die Tür einfach hinter sich zufallen.
Karl kaute an seinem Fingernagel. Professor Leary war doch wirklich ein seltsamer Mensch.
Er nahm sein Gepäck, um zu Leary ins Foyer des Hotels zu gehen. Frankfurt war seiner Meinung nach keine schöne Stadt. Dreckig, groß und kriminell. Warum er mit Leary gerade hierher kommen musste, war ihm ein Rätsel.
Karl war zwanzig. Sein schwarzes Haar, seine Gesichtszüge und seine braune Haut verrieten seine asiatische Herkunft. Doch obwohl man es nicht ansah, Karl war schwer krank. Er hatte Krebs im Endstadium, der bald seinen ganzen Körper auffressen würde.
Als er so in der Hotelhalle saß und die Besucher und Gäste beobachtete, wie sie im Vorbeigehen in die großen Spiegel hineinguckten, um den Sitz ihres Anzuges oder Kostüms zu kontrollieren, stellte er fest, dass er trotz seiner Krankheit recht gut aussah. Hätte er nicht die neuen Medikamente verabreicht bekommen, die ihm das Laufen ermöglichten und ihn schmerzfrei ließen, würde er jetzt wahrscheinlich wahnsinnig vor Qualen in einem Krankenhausbett liegen. Als hätte Leary seine Gedanken gelesen, stand er plötzlich hinter Karl und sagte: "Hör auf, dich selbst anzustarren! Komm, sonst sind wir zu spät. Und das wäre fatal!" Er knuffte Karl, seinen Zögling, liebevoll in die Seite und sie gingen nebeneinander aus der Halle, um ein Taxi zu ergattern.
Zur gleichen Zeit stand Sheryll am Flughafen vor der Halle und wartete auf ihren Leihwagen, den Leary ihr versprochen hatte. Sie strich ihr Kostüm glatt und nahm den Koffer in die Hand, als ein Audi mit der für Leihwagen typischen Pneumotechnik anschwebte. Diese Wagen hatten sich ideal zum Umbau geeignet und da die Leihfirmen Pioniere auf dem Gebiet des Immissionsschutzes geworden waren, hatten sie schon vor Jahren einige Automodelle umfunktioniert. Sie fuhr jedoch lieber Zug, deshalb hatte sie sich entschlossen, ihren Flug von Kalifornien nach Köln zu buchen und den Rest der Strecke auf Schienen zurückzulegen. Außerdem mochte sie die deutsche Landschaft.
Sie fuhr gleitend durch Frankfurt und erreichte nach etwa einer halben Stunde Fahrt das Gebäude, das Leary ihr genannt hatte. Sie parkte den Wagen und zog immer wieder ihr Kostüm glatt, während sie sich auf den Weg durch das Gebäude zum Besprechungszimmer machte. Den Koffer hielt sie in der Hand.
Zimmer einhundertundzwölf. Sie sog kurz Luft durch ihre Zähne ein und drückte die Türklinke nach unten. Es war keiner da. Der Raum war klein, aber er dürfte ausreichend für ihre Zwecke sein, schließlich waren sie nur zu zweit. Er war mit Holz verkleidet und bot die Möglichkeit, Hologrammdias zu zeigen. Sie baute ihre Gerätschaften auf, die sie im Koffer hatte und ließ die Rollläden herunter. Jetzt war der Raum in ein schummriges Licht getaucht. Sie konnte nicht mehr machen, als sich hinzusetzen und zu warten.
2
Leary und Karl saßen im Taxi und sprachen nicht. Karl dachte nach. Schon seltsam, wie er hier neben seinem Ziehvater saß und ins Ungewisse fuhr. Sicher, Leary war immer gut zu ihm gewesen und hatte nie etwas getan, was Karl wehgetan hätte. Trotzdem wunderte sich Karl manchmal über Learys Reserviertheit und seine Verschwiegenheit.
Karl hatte eine ausgezeichnete Ausbildung genossen, immer das Beste vom Besten bekommen. Wie es eben ist, wenn man bei einem reichen und renommierten Professor und dessen liebevoller Frau aufwächst. Jedoch hatte er sich schon früh gewundert, warum er so anders aussah, als seine Eltern, warum er dunkle Haut hatte, eher den Ninja-Kriegern in alten Martial Arts Filmen ähnelte. Leary hatte gesagt, dass er adoptiert sei, dass er ihn aus einem Waisenhaus geholt hatte. Ob er denn wüsste, wer seine leiblichen Eltern seien, hatte Karl ihn gefragt. Nein, solche Informationen würden von den Behörden geheimgehalten, so lautete Learys kurze Antwort. Karl hatte gemerkt, dass Leary nicht darüber sprechen wollte. Er bekam immer diesen Gesichtsausdruck, der einem nicht erlaubte nachzufragen. Seine Gesichtszüge schienen sich dann zu verhärten, undurchdringlich zu werden.
Karl hatte nicht nachgebohrt. Es hatte ihn ehrlich gesagt auch nicht sonderlich interessiert. Irgendwann mal vielleicht würde er dieses Thema noch einmal ansprechen, hatte er damals gedacht. Es hatte ihm nicht so sehr unter den Nägeln gebrannt, zu erfahren, wer ihn gezeugt und wer ihn geboren hatte. Er stellte sich jedoch vor, dass ein verarmtes chinesisches Reisbauernpaar mit kegelförmigen Strohhüten und einem Ochsen irgendwo in China eine Horde von Kindern zu versorgen hatte und ihn nicht gebrauchen konnte. Schließlich verstand er ja nichts von chinesischer Agrarwirtschaft. Mit diesem Klischee tröstete er sich.
Was ihn auch störte, war, dass Leary ihm nie gesagt hatte, was er genau im Labor machte, wenn er zur Arbeit ging. "Da geht es hauptsächlich um die Auswertung langweiliger Statistiken über langweilige Experimente." Dies war wieder eine Antwort gewesen, die keine weiteren Fragen aufwerfen sollte. Aber auch das war Karl nicht so wichtig. Er hatte ein hektisches Leben auf der Uni und seine Kindheit war viel zu glücklich gewesen, als dass er sich heute Gedanken über unwichtige Nebensächlichkeiten machen wollte. Er hatte nur noch ein kurzes Leben zu leben, das für Problembewältigung keine Zeit ließ.
Warum ihm das jetzt alles in den Sinn kam, lag vielleicht daran, dass Leary ihn nach Frankfurt eingeladen hatte, dass er ihm nicht sagen wollte, weshalb und dass Leary nervös gewirkt hatte, was ungewöhnlich war. Aber Karl vertraute ihm und das verlieh dieser Angelegenheit einen Hauch von Spannung.
3
Sheryll fragte sich, wann sie Leary das letzte mal gesehen hatte. Es war eine Ewigkeit her. Er war damals ihr Professor an der Uni gewesen. (Sie war "The Class of 2026" gewesen.) Ein kluger, offenherziger und strenger Mann. Man konnte ihm die selbstauferlegte Disziplin aus dem Gesicht ablesen. Er war ein Mann, der, wenn er mit jemandem sprach, einem direkt in die Augen sah. Er benutzte klare Worte und seine Mimik sprach Bände.
Sie mochte Menschen nicht, die einen nicht ansahen, wenn man sich mit ihnen unterhielt. Und wenn man nachhakte, stellte sich oft heraus, dass der vermeintlich gebildete Gesprächspartner leider nur Meinungen anderer gut verpackt als die seinen ausgegeben hatte. Zu denen gehörte Leary nicht. Menschen, die keine Meinung hatten, stießen sie ab und machten sie wütend und Leary machte sie nicht wütend, im Gegenteil, sie bewunderte ihn - schon immer. Wenn sie aber an das Potenzial dachte, dass Tag täglich verschwendet wurde, nur weil es einfacher für Milliarden von Menschen war, alles hinzunehmen und nachzuplappern, was ein "Intellektueller" gesagt hatte, ärgerte sie sich noch mehr.
Sie schnaubte kurz. Dieses Geräusch hing für kurze Zeit dumpf im holzvertäfelten Raum, bevor es sich verflüchtigte. Und für eine Sekunde freute sie sich, dass sie sich selbst schätzen konnte. Sie war ihren Weg gegangen, hatte ein erfülltes Leben gehabt, viel gesehen, ihren Sohn, Frank, großgezogen und einen wundervollen Ehemann geheiratet.
Die Reise hatte sie müde gemacht. Sie dehnte ihre Nackenmuskulatur, indem sie ihren Kopf kreisen ließ. Sie war nicht mehr die Jüngste und ihr strenger Terminplan ließ keine Zeit zum Durchatmen zu. Sie stand kurz vor dem Ende ihrer Forschungen. Sie brauchte nur noch die Ergebnisse von Leary, dann hatte sie es, wenn alles nach ihren Vorstellungen lief, geschafft. Dann würden Konferenzen folgen, Interviews, Veröffentlichungen von Berichten und unzählige Einladungen zu Veranstaltungen, die ihre Forschungsergebnisse zum zentralen Thema haben würden. Sie atmete erneut aus, aber diesmal lächelte sie dabei.
Sie horchte auf. Das dumpfe Geräusch eines laufenden Motors hatte sie aus ihren Gedanken gerissen. Plötzlich war ihr ihre Träumerei fast peinlich. Ebenso dumpf schlugen zwei Autotüren zu. Dann fuhr das Auto an und es war wieder still. Leary kam!
4
Sie hatten endlich das Gebäude erreicht. Leary gebot Karl mit einer Handbewegung auszusteigen, während er den Taxifahrer bezahlte. Das Taxi fuhr davon. Dann glitt er sich mit seinen Fingern durch sein weißes Haar und führte Karl in die Eingangshalle des Gebäudes. Drinnen gab es keinerlei Hinweise auf das, was Leary ihm konsequent verschwieg. Sterile Glas- und Stahlmöbel verunschönerten die Halle. Es war Sonntag. Die Empfangstheke, an der sich Karl ein hübsches, schickes Mädchen vorstellen konnte, war verlassen. "Warte hier. Ich werde dich gleich holen." Karl zog seine Augenbrauen zusammen, er war über die Maßen verwundert. Leary bemerkte den Ausdruck in Karls Gesicht und sagte: "Du wirst gleich wissen, worum es geht. Wundere dich nicht, warte einfach hier." Karl gehorchte und setzte sich auf einen verchromten Stuhl: "Ich warte.", "Guter Junge." Leary zog den rechten Mundwinkel nach oben und zwickte sein rechtes Auge zu. Dann ging er zum Aufzug, der schon auf ihn gewartet zu haben schien.
5
Ihr Herz tat einen kleinen Sprung, und dieses Gefühl raste durch ihren ganzen Körper. Sie stand auf, beinahe hektisch, und überprüfte ihre Apparaturen, die sie für die Hologrammdiaschau brauchen würde. Dann zupfte sie ihr Kostüm ein letztes Mal zurecht. Sie war wirklich aufgeregt! Sie setzte sich auf die Tischkante, wobei sie sich mit einem Bein am Boden abstützte und das andere in der Luft baumeln ließ.
6
Zimmer einhundertundzwölf. Sein Herz klopfte. Noch einmal fragte er sich, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte, bevor er zaghaft die Klinke nach unten drückte und die Tür öffnete. Da saß sie legere auf der Tischkante.
"Hallo Professor. Ich hab dich vermisst!" Sie grinste.
"Hallo Miss Tokio! Lass dich ansehen! Du bist nicht älter geworden. Damit meine ich, du siehst toll aus."
"Charmant!" Sie ging mit geöffneten Armen auf Leary zu. "Lass dich umarmen!"
"Ja, das tut gut! Telefon und e-Mail ersetzten bei weitem nicht das Face to Face. Mein Gott." Er strich über ihren Rücken, bevor er sie wieder losließ.
"Wobei wir schon beim Thema wären, nicht wahr?"
"Sheryll, Gott hat damit wenig zu tun..." Leary sah sie prüfend an. Sie war noch immer eine schöne Frau.
"Professor, kommen wir zum Wesentlichen. Ich habe alles dabei, ich muss nur noch..."
"Später, später. Wie du siehst, habe ich keine Unterlagen dabei. Lass mich erst noch meine Sachen holen. Ich wollte dich nur nicht überrumpeln und dich erst begrüßen."
"Ganz der Alte." Sheryll nahm eine Fernbedienung in die Hand und während sie mit dem Rücken zu Leary sprach, hantierte sie schon am Holographen. "Ich leg schon mal die Zipper ein. Dann können wir gleich anfangen. Geh und hol deine Sachen!"
"Gut." Leary ging aus dem Zimmer und er war sich nicht mehr so sicher, ob Karl Sheryll wirklich kennen lernen sollte. Aber er verwarf den Gedanken sofort. Tausendmal hatte er die Situation, die Begegnung in Gedanken durchgespielt und war immer zur gleichen Lösung gekommen: Es konnte nur gut gehen.
7
Die Fahrstuhltüren glitten auf und Leary marschierte auf Karl zu. "Ich möchte dir, bevor wir in das Zimmer gehen, sagen, dass dies, wenn du richtig damit umzugehen weißt, eine interessante Sache für dich werden kann. Es wird dir zumindest viele Fragen beantworten." Sagte Leary, als sie gemeinsam im Aufzug fuhren. Und als sie vor Zimmer einhundertundzwölf standen sagte er: "Ich möchte nur, dass du weißt, dass dies kein schlechter Scherz ist. Die Person, die ich dir jetzt vorstellen werde, wird genauso überrascht sein, wie du."
"Aha." Karl war misstrauisch. Aber er versuchte, dieses Gefühl zu unterdrücken.
8
Sheryll hörte Learys Schritte und sie war erleichtert, dass sie endlich anfangen konnten. Ohne Learys Ergebnisse war sie aufgeschmissen. Sie wäre weniger erleichtert gewesen, wenn ihr aufgefallen wäre, dass nicht nur Leary den Gang entlang kam, sondern noch ein zweiter Jemand. Aber sie hatte die Schritte nicht gehört.
9
Leary trat ein. "Na endlich, Professor, ich dachte schon, du lässt mich sitzen! Sollen wir gl..." Sheryll blieb der Mund offen stehen. Da stand Frank, ihr Sohn! Wahrhaftig! Das konnte nicht sein, sie hatte ihn doch nach Berkeley geschickt. Was zum Henker war hier los? "Frank, du..."
Sie war sprachlos. Und dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Das war nicht Frank, das hier, das war
Karl!
Das waren Learys fehlende Unterlagen, das war der Grund dafür, dass er sie nicht hatte überrumpeln wollen! Sie war empört. Sie wollte nicht und sie konnte auch nicht mit Karl sprechen. Das war die Abmachung gewesen. Kein Treffen! Außerdem war das gegen die Regeln. Warum zum Teufel setzte sich dieser alte Eigenbrödler über die Abmachung hinweg?
"Ich bin nicht Frank!", sagte Karl und runzelte seine Stirn. Er betrachtete diese Frau, die Haar wie seines hatte. Sie war asiatischer Abstammung, sie war schlank und er schätze sie um die Fünfzig. Er fand, dass sie für ihr Alter gut aussah. Ihr schickes graues Kostüm, betonte ihre Hüften. Er blickte zu Leary, doch der schaute nur neugierig zwischen ihm und Sheryll hin und her. Dann wiederholte er etwas lauter: "Ich sagte, ich bin nicht Frank, ich heiße Karl."
"Ja..., ja..." Sheryll wusste nichts zu sagen. Leary fand, dass sich Sheryll sehr unhöflich verhielt. Um die Situation zu entschärfen sagte er schnell:
"Karl, das ist Dr. Sheryll Langrave. Sie ist, nun ja, sie ist deine Mutter."
9
"Sie ist was?" Und um die Absurdität dieses Faktes zu unterstreichen, wiederholte er: "Sie ist was?"
Leary ignorierte Karls Frage einfach und wandte sich an sie: "Sheryll, ich wollte dir nicht vor den Kopf stoßen. Aber ich fand, dass es nicht richtig gewesen wäre, dir Karl nicht vorzustellen." In Learys Worten schwang kein entschuldigender, sondern ein vorwurfsvoller Tonfall mit, als wollte er Sheryll wissen lassen, dass sie ihren zweiten Sohn nicht für immer vernachlässigen und meiden konnte
"Sie ist was?" Karl war noch immer bei seiner ersten Frage. Außerdem hasste er es, wenn man über seinen Kopf hinweg sprach.
"Setzen wir uns alle, ja!" Leary versuchte, etwas Ruhe zu erzeugen.
Sie starrte Karl nur an, ohne Learys Aufforderung zu folgen. Das war eindeutig ihr Sohn, Mimik, Gestik, Stimmlage, der ungläubige Ausdruck in seiner Körperhaltung. Alles stimmte. Jetzt merkte sie, dass sie sich setzen musste.
Karl wandte sich an Leary: "Ich setze mich nicht - O. K. - bis du mir das hier erklärst! Was soll der Scheiß? Mach schon, fang an!" Er war empört und enttäuscht und am liebsten hätte er Leary geschlagen! Diese Frau war seine Mutter? Diese Frau war immer da gewesen und Leary hatte ihn immer belogen? "Ich will jetzt wissen, was hier läuft, klar!" Er schrie fast.
"Karl beruhige dich! Das ist deine Mutter, ja. Aber zuerst will ich, dass du dich setzt!"
Unwillig und mit hasserfülltem Gesicht setzte sich Karl auf die Kante des Stuhls der am nächsten bei der Tür war. Er war bereit, jederzeit aufzuspringen und abzuhauen, wenn das nötig werden sollte. Leary machte ihm Angst. Und diese Frau sah so überheblich aus, dass ihm übel wurde.
"O.K., jetzt sitzen wir alle." Leary warf Karl einen Blick zu, der entweder als Entschuldigung für Sherylls Verhalten oder als Vorwurf an Karl zu deuten war. Die Zweideutigkeit dieses Blickes machte Karl rasend.
"Karl, das ist Dr. Sheryll Langrave. Sie ist, wie schon erwähnt, deine Mutter. Es ist ein Schlag vor den Kopf für dich. Ich weiß." Karl schnaubte wütend, als wolle er sagen: ‚Was du nicht sagst!' Leary fuhr fort, jedoch nicht ohne Karl einen ermahnenden Blick zuzuwerfen.
"Aber ich konnte dir all die Jahre nichts von ihr erzählen. Es gab Regeln einzuhalten und gewisse Erwartungen mussten erfüllt werden. Ich habe dich belogen und das tut mir leid." Leary senkte seinen Kopf und öffnete dabei seine Hand. "Ich werde das nicht gut machen können, doch ich gehe das Risiko ein, dass du wütend auf mich bist, nur um dir gegenüber fair zu bleiben und dir die Wahrheit zu sagen, über alles, was dich und deine Vergangenheit und Herkunft betrifft. Sheryll ist deine Mutter, aber sie ist nicht wirklich deine Mutter..."
"Ha! Ich lach mich kaputt!" Karl musste sich beherrschen um nicht wieder mit dem Schreien anzufangen, also atmete er durch und äffte Leary nach: "Das ist deine Mutter, aber dann doch nicht, ha ha. Willst du mich für dumm verkaufen?"
"Sei jetzt ruhig und lass mich ausreden!" Das war schärfer, als Leary das gewollt hatte, aber es war schon schwer genug, darüber zu sprechen, also musste er Karl zurechtweisen.
"Sie ist nicht wirklich deine leibliche Mutter. Aber sie hat einen Sohn, der zwanzig ist, genau wie du. Er studiert in Berkeley in den USA. Er hat Biochemie und Physik als Hauptfach belegt, genau wie du. Er ist launisch, eigensinnig, liebevoll und klug, genau wie du. Und ihr seht euch zum Verwechseln ähnlich." Leary schmunzelte.
"Weißt du, es ist kein Zufall, dass ihr euch so ähnlich seid. Ihr seid..." Leary zögerte, als wollte er den richtigen Ausdruck finden, um so Karl nicht zu beleidigen.
"Zwillinge?" Beendete Karl den Satz für Leary. Doch der schüttelte den Kopf. "Nein, keine Zwillinge. Siehst du, es ist nicht so einfach zu erklären, wenn du vor mir sitzt. Du und er, ihr seid Eins."
"O.K., das langt! Ihr seid Eins, das hört sich an wie eine Talkshow! Ihr spinnt doch, ich gehe jetzt."
10
"Karl, bitte setz dich und hör zu." Das hatte sie gesagt. Karl war bereits aufgestanden, doch als er sie sprechen hörte, hatte er auf einmal das Verlangen, mehr zu erfahren. Leary war auch im Begriff gewesen, aufzustehen, doch als Karl stehen geblieben war, hatte er sich wieder erleichtert in den Stuhl fallen lassen.
"Es ist wohl besser", sagte sie, "wenn ich den Rest erzähle." Leary nickte kurz anerkennend, um ihr damit das Wort zu überreichen. Sie hatte sich gefangen, vom Schock erholt und fühlte sich verantwortlich für das, was Leary zu erklären versuchte, ohne wie ein Mediziner zu klingen, der über ein Projekt sprach. Sie schloss die Augen und sog dabei Luft durch ihre Zähne ein.
Dann fing sie an: "Karl, ich war jung, als ich mit Frank schwanger war. Ich hatte gerade mein Studium abgeschlossen. Wir hatten wenig Geld, aber wir hatten all das Wissen, das man brauchte, um die Welt besser machen zu können. Darüber hinaus hatten wir, mein Mann, dein Vater, und ich auch das nötige Handwerkszeug und den perfekten Kontakt, um ein Vorhaben durchzuführen, das Dank Leary und mir, heute nichts Besonderes mehr ist. Und das Projekt hieß ‚Klonen'."
11
Karl blieb der Mund offen stehen.
Er war ein Klon?
Er war nicht Karl, sondern eine Kopie von Frank? Humaner Abfall? Ihm wurde schlecht. Die Gedanken, die jetzt durch seinen Kopf gingen, auch die absurdesten, hatten keine Bedeutung. Dieser Moment war zweifelsfrei der schlimmste in seinem ganzen Leben. Ein Gefühl von Unbehagen machte sich in ihm breit. Er legte sein Gesicht in die Hände und vergrub die Finger in seinem Haar.
"Anfangs wollten die Behörden keine Erlaubnis geben, doch dann wurde ein neues Gesetz erlassen, das nicht das Klonen, sondern die Entnahme von einzelnen Zellen erlaubte, um Gewebe künstlich zu vervielfältigen. Wir kämpften gegen Windmühlen. Ich war schon im sechsten Monat schwanger und da fanden wir einen Weg, um halb legal eine Erlaubnis für das Klonen eines Menschen zu erhalten. Wir hatten Glück, denn wie du weißt, ist das Klonen seit 2038 wieder strengstens verboten worden." Sie guckte wie eine Frau, die gerade noch ihren Zug erwischt hatte und ihrem Begleiter mit Humor die Geschichte erzählte, wie sie ihn beinahe verpasst hatte.
"Wir entnahmen Zellen von Frank und ließen sie im Labor heranreifen. Der Prozess ist zu langwierig, um in allen Einzelheiten darauf eingehen zu können. Aber soviel sei gesagt: wir mussten junge Zellen verwenden, da diese sich besser zum Klonen eignen." Sie blickte kurz zu Leary, der nur wieder nickte, um sie zum Weitersprechen zu animieren. "Jahrelang stand ich mit Leary in Verbindung. Er hat dich großgezogen, damit die Ergebnisse nicht verfälschten, auf die wir so neugierig waren und noch heute sind. Wir wollten sehen, ob du dich genauso wie Frank entwickeln, oder einen ganz anderen Weg einschlagen würdest. Schließlich besitzt ihr dieselben Erbanlagen." Sie lächelte Karl an, als hätte sie ihm gerade die beste Nachricht seines Lebens unterbreitet. Dann fuhr sie enthusiastisch fort:
"Mit der Zeit stellten wir fest, dass ihr gewisse Ähnlichkeiten aufweisen konntet, aber im Gegenzug dazu hattet ihr viele, komplett unterschiedliche Charakterzüge entwickelt. Du warst immer schüchterner und verschlossener als Frank. Das lag wahrscheinlich daran, dass du nicht wusstest, wer deine Eltern waren. Dass du dich wie ein Fremdkörper gefühlt hast. Und das Erstaunliche war, dass du, obwohl du unter psychischen Belastungen zu leiden hattest, denen Frank nicht ausgesetzt war, trotzdem grob denselben Lebensweg eingeschlagen hast, wie er. Diese Forschungen können wichtig sowohl für die Medizin als auch für die Psychologie sein. Denn nun wissen wir mit Sicherheit, dass nicht etwa die Erbanlagen für moralische Wertvorstellungen eines Menschen ausschlaggebend sind, sondern die Umstände, unter denen ein Mensch aufwächst. Das war zwar schon bekannt, aber jetzt wissen wir definitiv, dass selbst dann, wenn ein Mensch und sein Klon mit identischen DNA-Codes in zwei ganz unterschiedlichen Gegenden der Welt aufwachsen, niemals dasselbe Wesen, denselben Geist entwickeln. Diese Vermutung hat sich also bestätigt und ist beweisbar, dank dir. Und wenn wir diese Ergebnisse vorweisen können, wird es vielleicht wieder erlaubt sein, legal am Klonen zu arbeiten."
Sherylls Wangen glühten. Sie war mittlerweile sehr interessiert an dem Verhalten, das Karl zeigte. Er war ruhig und gefasst, doch manchmal bemerkte sich leichte Veränderungen in seinem Gesicht, die sie nicht deuten konnte. Sie wollte so viel mehr mit ihm sprechen. Sie wollte ihn zu den Kongressen und Interviews mitnehmen und ihn als "den ersten überlebensfähigen Klon" vorstellen. Sie war entzückt. Letzten Endes hatte Leary doch Recht gehabt, als er sich entschlossen hatte, ihr Karl vorzustellen.
"Ich hab genug gehört, verzeiht," der Sarkasmus in seiner Stimme klang bitter in seinen Worten mit, "aber ich kann Arschlöchern wie euch nicht zuhören!" Karl blickte beide zornig an. Aber da war noch etwas anderes, das in seinem Hinterkopf mitschwang: es war Enttäuschung und Trauer über diesen Betrug an seinem Erbgut.
12
"Wenn ihr erlaubt, werde ich jetzt gehen."
"Halt, du kannst nicht einfach so gehen. Schließlich sind wir noch nicht fertig mit den Erklärungen." Leary merkte, wie hilflos das geklungen haben musste. Es tat ihm leid, dass er Sheryll hatte sprechen lassen. Sie war so unsanft und theoretisch. Er hatte Mitleid mit Karl und wollte nicht, dass er ging. Aber er musste es ihm jetzt sagen. Es war nur fair.
"Karl, bitte, nur noch einen Moment." Karl schnaubte ungeduldig, doch er blieb.
"Es gibt da noch etwas, das ich dir sagen muss. Aber du musst es jetzt wissen." Karl verdrehte die Augen, doch er ließ Leary sprechen, denn jetzt war er neugierig geworden. Die Freakshow hatte begonnen...
"Du weißt, dass du krank bist." Leary wartete allen Ernstes auf ein zustimmendes Nicken von Karl, ehe er weitersprechen wollte. Karl tat ihm den Gefallen, denn auf einmal fand er alles, was in diesem Raum gesagt worden war, sehr lustig. Er spielte einfach ihr Spiel mit. Leary fuhr fort: "Klone sind im Allgemeinen wenig resistent gegen Krankheiten. Du bist der erste Klon und wir hatten keine Erfahrungen und Studien, auf die wir hätten zurückgreifen können. Warum du schon jetzt Krebs hast, ist unsere Schuld. Wir haben deine Lebensdauer um fast drei Viertel verkürzt. Ich sage dir das so direkt und schonungslos, weil ich keine andere Möglichkeit finde, es dir sonst zu sagen, ohne mich herausreden zu wollen oder dich noch mehr zu verletzten." Learys Worte hingen schwer im Raum. Die Stille, die jetzt zwischen ihnen eingetreten war, tat in den Ohren weh. Karl zog seine Mundwinkel spöttisch nach unten und nickte unablässig mit dem Kopf.
Es dauerte einige Momente, bis Sheryll schrie: "Er hat Krebs?" Ihre Stimme überschlug sich fast. Das würde bedeuten, dass das nicht der erste überlebensfähige Klon war! Das machte alles zunichte. Sie schloss die Augen. Das Gefühl der Niederlage hatte sie paralysiert. Ein bitterer Geschmack machte sich in ihrer Mundhöhle breit. Dass Karl aufstand und sagte: "Fickt euch alle! Mit euch verrückten Wichsern will ich nie wieder etwas zu tun haben. Habe die Ehre, Mutter", bekam sie nur am Rande ihrer Wahrnehmung mit.
Er knallte die Tür hinter sich zu und begann erst zu weinen, als er auf der Straße stand.
Leary hatte nicht versucht, Karl aufzuhalten. Er war eigentlich erleichtert, dass er die Wahrheit gesagt hatte und fast froh, dass er nicht mehr von Karls Zorn hatte ertragen müssen.
13
"Wie lange wird er noch leben?" Sherylls Stimme klang durchsichtig wie Glas.
"Zwei oder drei Monate. In der Endphase schreitet die Krankheit mit Riesenschritten voran." Seine Stimme war tonlos und dünn.
Lange Zeit saßen die beiden da ohne zu sprechen. Sie dachten so konzentriert nach, dass sie sich nicht einmal mehr bewegten, bis Sheryll sagte:
"Verrückte Idee", dabei sah sie Leary so an, wie Kinder, wenn sie etwas Verbotenes planen und nicht wissen, ob sie sich wirklich trauen sollen, "warum machst du nicht einfach einen Neuen?"
Leary war geschockt, und es dauerte geraume Zeit, bis er sich endlich zu einer Antwort durchrang.
 

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