– Es ist sehr unrecht von dem Pfarrer, daß er da drüben in der Kirche immer von der Vergeltung Gottes bis in's unendlichste Glied spricht und auch stets so schlecht von den Dornen redet! sagte der Dornbusch, der vor dem verfallenen Stallgemäuer der Schloßruine, der Dorfkirche gegenüber stand. Es ist sehr unrecht von ihm, denn er kann ja z. B. nicht wissen, was es mit mir für eine Bewandtniß hat! – Auf dem Blutsacker bei Golgatha, da stand vor bald 2000 Jahren mein Stammbaum, ein Kreuzdorn, aus dessen Zweigen flochten sie die Dornenkrone des Heilands. Der Pfarrer drüben aber weiß nicht, daß ich von diesem Kreuzdorn stamme, daß alle directen Abkommen desselben rothe Blüten treiben, in der Christnacht blutige Thränen weinen, und daß wir Dornen uns ewig verjüngen wie Christi Lehre, denn wir sind ja mit ihr verflochten!
So sprach der Dornbusch. Und da fuhr der Wind in seine Zweige und schüttelte sie, daß Schnee von denselben fiel.
– Freilich, die Bewandtniß muß man kennen! seufzte der Dornbusch.
Es war nun aber heute Christabend und darum stellte der Dornbusch seine frommen Betrachtungen an, die er indeß auch an andern Tagen hegen mochte, wenn es mit seiner Abkunft wirklich »die Bewandtniß« hatte, deren er sich rühmte. Inzwischen ward es dunkler, der Mond ging auf und die Häuser warfen dichte Schatten auf die Schneedecke, die über der gefrorenen Dorfstraße lag. In der Kirche läutete man zur Vesper und der fromme Pfarrer schritt daher, um die Abendpredigt zu halten.
– Da geht er gleichgültig an mir vorüber! sagte der Dornbusch. Natürlich: er kennt ja meine Bewandtniß nicht! Und die Uebrigen eilen auch alle an mir vorbei in die Kirche, und wenn der Herr Gott nicht in's Verborgene schauen könnte, er würde seine Gläubigen an den Fußspuren erkennen, die von den Häusern in die Kirche führen. Aber er kennt sie Alle, denn er selbst leitet ja ihre Spuren... Ich jedoch kenne Zwei im Dorfe, die nicht heute und nicht das ganze Jahr in die Kirche gehen, weil sie gottlos sind: es ist der finstre Schloßherr und der wilde Steffen, den der Erstere gestern aus seiner Hütte gejagt, weil er den Miethzins nicht bezahlt, und dessen armes Weib mit ihren halbnackten Kindern nun hier in dem verfallenen Stalle liegt, vor dem ich Wache halte. – Ich muß mich doch einmal nach der armen Frau und dem kranken Kinde umschauen! sagte der Dornbusch und reckte seine Zweige, um in das zerbrochene Fenster zu blicken.
Aber es war dunkel drinnen und der Nachtwind ächzte an den feuchten Wänden und durch das offene Fenster.
– Ach Gott, das arme Weib ist so gut und doch so elend! Hier in dem Stalle sind Jammer und Zähneklappern heute die Christbescheerung. Das ist doch zu traurig! seufzte der Dornbusch.
Und drüben in der Kirche begann die Orgel mit den feierlichen Tönen. – Christ ist geboren! sang die Gemeinde dazu von dem Chor und von den Bänken. – Christ ist geboren! rief auch der Wächter vom Thurm herab.
Und der Dornbusch hatte Recht. Drinnen in dem alten verödeten Stalle lag ein armes Weib auf den Knien und betete. Heiße Thränen rannen über ihre Wangen, krampfhaft hatte sie die Hände gefaltet, starr heftete sie das Auge auf das Stroh, das sich in der alten steinernen Krippe befand, denn in dieser Krippe lag ihr Jüngstgebornes, ein halbjähriges krankes Kind, zitternd von Fieberfrost und Kälte.
Der Mond schien durch die Fensteröffnung auf diese Gruppe, mitleidig fielen seine Strahlen auf das kranke Kind; aber sie konnten es nicht wärmen und die Mutterbrust vermochte dies auch nicht mehr, denn sie war ja selbst so eisig. Und durch die Spalten des morschen Daches, dessen Lücken der Schnee deckte, fielen zu Hunderttausenden die kleinen glitzernden Schneesternchen herab und spielten in den Mondstrahlen. Aber auch sie leuchteten und wärmten doch nicht.
– Heiland der Erde, der Du in dieser Nacht geboren wardst, der Du lebtest und starbst für uns Alle, der Du heute in einer Krippe lagest wie dieses arme, hülflose Geschöpf, rette, o rette mein krankes Kind! – So betete das unglückliche Weib, und die kalten Händchen des Kindes streckten sich jammernd nach der Mutter aus. Ihre Kraft aber war gebrochen, ermattet ließ sie die Stirn auf den eisigen Rand der Steinkrippe sinken, ihr Auge schloß sich, ein tiefer Seufzer entrang sich ihrer Brust. Tage und Nächte hindurch hatte sie gewacht, Tage und Nächte des tiefsten Elends hatte sie verlebt; jetzt aber brach sie zusammen und der Schlummer erbarmte sich ihres Jammers.
– Du armes Weib, wo ist Dein Gatte? Du armes Kind, wo ist Dein Vater? sagte mitleidig der Dornbusch draußen, in's Fenster schauend.
Ja, wo war der Gatte, wo war der Vater? – Der wilde Steffen, wie man ihn im Dorfe nannte, war, wie gesagt, gestern Abend mit Weib und Kind aus seiner Hütte gejagt worden; er hatte bei seinen Nachbarn ein Obdach gesucht, die aber hatten von ihm nichts wissen wollen, denn sie fürchteten sich vor dem gottlosen Steffen, der nie gut gethan, wie sie sagten. Und so war er denn mit den Seinen in das verlassene Stallgemäuer gezogen. – Am Morgen aber war er racheschnaubend fortgeeilt und vergebens hatte sein Weib, ein Unglück befürchtend, ihn zurückzuhalten gesucht. –
Wo war der wilde Steffen? – Die Glocken läuteten, die Orgel tönte, die Gemeinde sang fromme Lithurgien in der Kirche und der brave Pfarrer stand auf der Kanzel und predigte, der Heiland sei geboren.
Droben in dem alten Schlosse aber in einem großen, unheimlichen Gemache saß neben dem längst erloschenen Kamin ein Mann mit finstern, abstoßenden Gesichtszügen. Es war der Schloßherr, ein hartherziger Mann, den man fürchtete, so weit seine Grenzen reichten. Das Licht vor ihm auf dem Tische war tief herabgebrannt; sein Antlitz war starr und regungslos, sein Auge geschlossen. Es schien, als schlafe er, aber er war so entsetzlich bleich.
Und während nun unten in den Hofgebäuden die Dienerschaft sich den Christbaum schmückte, schlich ein Mann die Treppe hinauf und durch den finstern Corridor. Leise öffnete er die Thür des großen Gemaches, leise trat er herein und neben den Sessel, in welchem der Gutsherr schlummerte. Das Auge des Fremden leuchtete in wilder Gluth, ein Hohnlachen entstellte seine verwitterten Züge. Einen Blick that er scheu im Zimmer umher. Ein Messer glänzte hoch in seiner Rechten, die linke packte die Hand des schlafenden Gutsherrn. Das Messer zuckte – –
– Christ ist geboren! sang man in der Kirche drüben.