Die Dunkelheit brach herein und er beschloß, nach Nachtlager auszuspähen; da hörte er helle Töne, fuhr zu und kam in ein Dorf. Unter der großen Linde geigten drei Fiedler; Burschen und Mädchen schwenkten sich im Tanz und stießen helle Jauchzer aus. Schlupps war nicht froh zu Sinn, sein Herz stand ihm nicht nach Lustigkeit, und er bog seitab, um seine Rößlein am Bache zu tränken. Da sah er auf einem Weidenstumpf zwei Menschen zusammengekauert hocken, einen silberhaarigen Greis und ein Weiblein. Sie hielten die Hände um die Kniee geschlungen, und aus den trüben Augen tropften schwere Tränen langsam über die Wangen herab. Erstaunt trat Schlupps näher; denn wenn ihm etwas arg schien, so war es der Anblick von Kummer und Sorge, und die beiden Huzzelchen sahen so kläglich aus, daß es ihm in die Seele schnitt.
»Was fehlt Euch, Großvater?« fragte er und legte dem [48]Alten die Hand auf die Schulter. Der schüttelte traurig das Haupt, ohne zu antworten; das Weiblein aber heftete den Blick auf den Frager und wies dann stumm hinüber nach der Linde, von wo das Jauchzen erscholl. Jetzt stand Schlupps ratlos und wußte nicht, was er aus der Antwort machen sollte. Er nahm sich aber zusammen, um seine Verlegenheit nicht merken zu lassen und meinte: »Weiß schon, was Euch fehlt; denn ich bin ein vielgereister Mann, der als Arzt gar berühmt ist und manchem geholfen hat, der schon meinte, es wäre Matthäi am letzten. Fasset Vertrauen und beichtet mir, was Euch härmt.«
»Uns ist nicht zu helfen,« schluchzte das Weiblein. »Könnt Ihr uns unser Leben wiedergeben?«
Da verwunderte sich Schlupps noch mehr; denn eine solche Klage hatte er noch nie vernommen. »Wollt Ihr Geld und Gut?« forschte er. »Nein, nein,« wehrte der Alte, »die können uns nichts nützen, uns steht der Sinn nicht nach Geldeswert. Nein, Herr. Damit Ihr aber nicht denkt, wir wären absonderliche Leute und das Alter hätte uns den Verstand verwirrt, so laßt Euch berichten, was uns fehlt, und wenn Ihr auch ein großer Doktor seid und manch Gebrechen heilen könnt, uns vermögt Ihr nicht zu helfen. Seht,« fuhr der Alte fort, »mein Weib, die Mariann, und ich waren arme Waislein und von der Gemeinde aufgezogen. Das ist ein hartes Brot, Herr, wenn man jede Woche auf einem andern Hof herumgestoßen wird, jedem im Weg und keinem zur Freud, und wenn die andern Kinder zu Vater und Mutter liefen, dann standen wir abseits, wünschten [49]uns wohl auf den Gottesacker und neideten den Toten ihre Ruh. Keiner dachte an uns. Unser bischen Essen gab man uns manchmal gutwillig, manchmal mit scheelem Blick, und wie wir etwas herangewachsen, da mußten wir unser täglich Leben schwer verdienen. Die Mariann als Gänsehirtin, ich als Hirt, und uns beiden durfte der Strickstrumpf nicht in der Hand ruhen. Aber wir fanden doch Gelegenheit, zu einander zu laufen und versprachen uns, daß wir einmal einander angehören wollten und uns immer Lieb und Treue erweisen. Ich wurde dann Knecht und sie Magd. Ihr wißt, wie lange es währt, bis zwei solche soviel haben, daß sie ein Häuschen anschaffen können und ein Äckerlein pachten. Wir sparten und sparten. Wenn die andern zum Tanz gingen, schritten wir selband abseits, weil uns der Kreuzer für den Fiedler und das Schöppchen Sauren reute. So kam es, daß wir beide schon graue Strähnen hatten, als es zur Heirat langte und wir hier am Ende des Dorfes ein Häuslein erwerben konnten.« Er atmete tief auf, nickte der Alten zu und fuhr dann fort: »Dann kam Kind auf Kind. Die Mariann und ich schafften im Tagelohn noch nebenher, damit all die hungrigen Mäuler satt wurden und die junge Brut mit Schuh und Gewand sauber angetan Sonntag in die Kirche konnte. Als aber die Kinder so weit waren, da zogen sie in die Welt hinaus. Es duldete sie nimmer im Vaterhaus. Ging da gar eng her. Die Mädels taten sich als Mägde in die Stadt, die Jungen sind landein gewandert, und wir sitzen allein. Und wie wir das Lachen und Jauchzen hier hörten, [50]da kam es uns in den Sinn, wie wir immer unser ganzes Leben abseits von aller Freude gestanden sind, wie heute bei der Linde, und daß wir ein Leben voll Müh und Arbeit, aber nie Freude und Lust gehabt haben. Und wißt, Herr,« setzte er hinzu, »in jedem Menschen ist eine Sehnsucht nach Freude, und wie die Tierlein froh sind, wenn die liebe Sonne scheint und nach ihr hinverlangen, so zieht es des Menschen Herz dazu, eine Freude zu haben. Sonst ist sein Sinn schwer und unfroh, und er weiß nicht, ob er lebt oder tot ist, und es liegt ihm die Kirchhofsrede schon bei Lebzeiten auf der Brust. Das ist uns heute zu Sinn gekommen, und nun lacht über die beiden närrischen Leute, die dem Leben nachlaufen wollen.«
»Gott verhüte, daß ich da lachen wollte,« rief Schlupps. »Tät mich der Sünde fürchten. Aber froh bin ich, daß ich Euch getroffen habe und meine Kunst an Euch zeigen kann. Denn wißt: gebrochene Arme und Beine kurieren, das kann jeder, und ist keine besondere Kunst dabei. Aber wenn die Seele krank ist, da helfen, das ist erst das Rechte, Doktor Kurzweil ist nicht umsonst überall berühmt. Kaiser und Könige haben mich schon oft gebeten, ihnen zu helfen; denn die leiden an der Seele genau so wie andere Menschenkinder und oft noch mehr.«
»Aber wir sind arm,« fiel das Weiblein ängstlich ein und dachte an die wenigen Silbermünzen, die es daheim im Strumpfe hatte. »Nicht um Geld darf ich Euch helfen, sonst ist es um meine Kunst geschehen,« sagte der Wunderdoktor. »Nur um Gotteswillen und um himmlischen Lohn. [53]Setzt Euch her und schaut hinüber wie die Sonne noch einmal hinter den Wolken vorschaut, und wie die Wiese daliegt, als wäre sie rot wie die Wangen eines Mägdleins, und die Bäume heben die Zweige wie junge Burschen das Haupt, wenn sie zu ihrer Liebsten gehen. Hier aber,« und er nahm das Fläschchen heraus, »das soll Euch Eure Wünsche erfüllen. Ist kein gefährlicher Zauber dabei und kein Unrecht. Es ist ein Trank von Sonnenglut gereift und von Gott gesegnet. Trinkt jeder einen herzhaften Schluck und sagt: ›Gott helf!‹«
Er machte ein so treu Gesicht, daß das alte Weiblein Mut faßte und trank, und da es des Weines ungewohnt war, rannen ihm die Tropfen wie Feuer durch den Leib und das Blut stieg ihm zu den Wangen. »Ei Mariann,« scherzte ihr Gespons, »du glühst ja wie ein jung Mägdlein,« nahm ihr die Flasche aus der Hand, tat einen kräftigen Zug und auch ihm war es, als ob ein neu Leben in ihm blühe.
Er faßte ihre Hand, und so standen sie aufgerichtet da und schauten in die Sonne, deren rote Glut über sie hinflackerte und die alten Augen mit hellem Licht erfüllte, daß sie leuchteten. »Trinkt noch einmal,« mahnte der Doktor. Da begannen sie herzhaft zuzugreifen, und wie jetzt die Töne von der Linde herüberschallten, hob der Alte erst ein Bein und dann das andere, faßte die Liebste an der Hand, und das Pärchen begann sich zu drehen und zu schwenken. Dann neigten sie sich über den Bach, der ihre Gesichter im matten Abendschein widerspiegelte, und der Alte sprach: »Ei, Mariann, wie bist du jung und schön. Deine lieben Augen [54]glänzen noch wie damals, da du als junge Dirn am Hoftor auf mich gewartet.« Und sie nickte und sagte: »Bist doch ein stattlicher Bursch, und wenn die Mägdlein wüßten, was für ein Schöner mein Liebster ist, kämen sie und neideten dich mir.«