Eines Tages kam in Seidorf die Rede darauf, daß, wer in Rübezahls Lustgarten Glücks-Männlein pflücken könne, reich und glücklich in der Welt werde; es müsse aber in der Johannisnacht geschehen, denn außer dieser Zeit breche Rübezahl einem jeden, der komme, den Hals. „Es muß aber eine Waise sein und kein böser Mensch,“ setzte der Erzähler hinzu.
Nun waren ein Paar Geschwister in der Wirtsstube, die beide verwaist waren, und der Brauer hatte sie aus Barmherzigkeit zu sich genommen; wie nun der Knabe diese Reden hört, denkt er: „Das will ich versuchen, und wenn es glückt, so soll mein Schwesterchen und der gute Brauer, der sich der armen Waisen angenommen hat, auch reich und glücklich werden.“
Ohne jemand ein Wort zu sagen, schleicht sich Joseph aus der Stube, steckt sich ein Stück Brot ein und schreitet wohlgemut aus dem Dorfe, den Bergen zu, denn es war eben die Johannisnacht. Wie er bis zur Hampelbaude kommt, fragt ihn der Baudenwirt, wohin er noch so spät wolle und der Knabe erzählt treuherzig sein Vorhaben.
Ein Mann der behaglich hinter einer Flasche Ungarwein sitzt, hört das mit an, und als Joseph, weitergeht, kommt er ihm rasch nach. „Wir wollen Gesellschaft machen,“ spricht er zu dem Knaben, „ich gehe auch noch diese Nacht in Rübezahls Lustgärtlein.“
Joseph sieht den stattlichen Mann an, der so rund und wohlgenährt aussieht und denkt: „ei, was mag denn dem noch zu seinem Glücke fehlen? — Das ist ja der reiche Kretschmer aus Breslau, der gestern bei uns in Seidorf übernachtete und bis spät nach drei Uhr Karten spielte und zechte.“ —
So gehen sie nebeneinander; die Nacht ist lieblich und still, und von den Dörfern im Tale klingen die Abendglocken herauf. Da faltet der Knabe in frommer Gewohnheit seine Hände und betet; der fremde Mann denkt aber nur an all den Reichtum, den er mit Hilfe der Glücks-Männlein erwerben wird. Als sie nun am Lustgarten Rübezahls ankommen, leuchten ihnen schon die Blüten des Glücks-Männlein entgegen und der Kretschmer fällt gierig darüber her, ganze Hände voll davon ausrupfend.
Da tritt plötzlich ein Greis mit langem, silberweißem Barte hinter einem Felsen hervor und ruft ihm ein donnerndes „Halt“ zu. Der Mann zittert am ganzen Leibe und bleibt wie angewurzelt stehen; der Knabe aber geht ruhig an den Greis heran und bittet: er möge ihm doch erlauben, zwei Glücks-Männlein mitzunehmen.
Da schaute der Greis freundlich auf den Bittenden und fragte: „wozu er denn gerade zwei Glücks-Männlein pflücken wolle?“
Joseph sagt nun, wie er und seine Schwester Waisen seien und gern glücklich werden möchten, damit sie nicht mehr guten Leuten zur Last fielen, und nur deshalb bitte er um zwei Blümlein.
Nun wurde der Greis immer freundlicher, pflückte selbst einen großen Strauß der begehrten Blumen, gab sie dem Knaben in die Hand und steckte ihm noch alle Taschen voll davon, indem er ihn ermahnte, nichts davon zu verlieren. — Nachdem dies geschehen und Joseph tausend Dank gesagt, fragt der Greis den Kretschmer: „Wer bist du?“ — Der Mann sagt, er sei arm und in Not und käme auch, um sein Glück zu machen.
„Elender!“ fuhr der Greis ihn an, „glaubst du, ich würde einen so schlechten Patron, wie du bist, glücklich machen? Hebe dich hinweg, nur für unschuldige Waisen ist das Glück beschert, das sie hier suchen.“ — Unter diesen Worten stand der Kretschmer zitternd vor dem Greise, wollte aber doch nicht vergebens heraufgestiegen sein und sagte, er sei auch eine Waise, sein Vater wäre von den Moskowitern fortgeschleppt worden, als er kaum zwölf Jahre alt gewesen sei. Er hatte diese Worte kaum gesprochen, da ergrimmte der Greis, faßte ihn bei der Gurgel und warf ihn hinab in den tiefen Grund. „Nichtswürdiger Lügner!“ sagte er dabei, und seine Stimme klang wie ferner Donner; — das Winseln des Mannes verstummte bald. — Der Knabe aber war erschrocken auf die Knie gesunken und betete; da nahm ihn der Greis an die Hand, sprach ihm sanft zu und führte ihn wieder aus dem Gehege heraus.
In Seidorf war man indes um Joseph sehr besorgt gewesen, und besonders die Schwester freute sich, als er gesund und frisch wiederkam und ganze Hände voll Glücks-Männlein mitbrachte. Er teilte dem Brauer redlich davon mit, und am andern Morgen hatte sich jedes Blättlein in pures Gold verwandelt. Nun gab es auf der Welt keine glücklicheren Geschwister; Joseph ward der reichste Bauer im Dorfe, hat aber nie die Hilfe Rübezahls und das schreckliche Ende des schlechten Kretschmers vergessen.