Schnellfuß trat so stolz vor den König hin, als wäre er ein geborener Königssohn, grüßte mit Anstand[S 52] und bat um Erlaubniß, das Probestück am andern Morgen zu versuchen. Der König gab sie, fügte aber hinzu: »Gut wäre es, wenn ihr schlechtere Kleider anzöget, denn unsere Rennthierkuh läuft unbekümmert durch Sumpf und Moor, immer gerade aus, da könntet ihr die theuren Kleider verderben.« Schnellfuß erwiederte: »Wer eure Tochter freien will, was macht sich der aus Kleidern?« und ging dann zur Ruhe, um den andern Tag desto munterer zu sein. Des Königs Tochter, die heimlich durch eine Thürspalte nach dem stattlichen Manne gespäht hatte, sagte seufzend: »Wenn ich doch dem Rennthier Fußfesseln anlegen könnte, ich thäte es, um diesen Mann zum Gemahle zu erhalten.«
Als den andern Morgen die Sonne aufgegangen war, band Schnellfuß der Rennthierkuh einen Halfterstrang[18] um den Hals und nahm das andere Ende in die Faust, damit die Kuh sich nicht zu weit entfernen könnte. Als die Stallthür geöffnet wurde, schoß die Kuh wie der Wind davon, der Hirte aber lief den Halfter festhaltend neben ihr her, und blieb keinen Schritt zurück. Der König und die Zuschauer aus der Stadt erstaunten über die wunderbare Schnelligkeit des Mannes, denn bis hierzu hatte noch Keiner auch nur ein paar hundert Schritt weit neben der Kuh herlaufen können. Wiewohl Schnellfuß sobald keine Ermüdung zu fürchten hatte, so hielt er es doch für gerathen, die Kuh zu besteigen, sobald er den Leuten aus den Augen war. Er sprang auf den Rücken des Thieres,[S 53] hielt sich am Halfter fest und ließ sich weiter tragen. Es war noch früh am Morgen, als die Rennthierkuh schon merkte, daß von diesem Hirten nicht loszukommen sei; sie hielt den Schritt an und rupfte das Gras vom Boden. Schnellfuß sprang ab und warf sich unter einen Busch, um auszuruhen, hielt aber den Halfter fest, damit die Kuh nicht davon liefe. Als die Sonne um Mittag brannte, legte sich auch die Kuh neben ihn in den Schatten und fing an wiederzukäuen. Nach Mittag versuchte das Thier noch einige Mal die Schnelligkeit seiner Beine, um dem Hirten zu entkommen, aber dieser war wie der Wind wieder auf dem Rücken der Kuh, so daß er seine Beine nicht anzustrengen brauchte. Sehr groß war das Erstaunen des Königs und der Leute, als sie bei Sonnenuntergang sahen, wie die störrige Rennthierkuh gleich dem frömmsten Lamme mit ihrem Hirten heim kehrte. Schnellfuß führte sie in den Stall, verschloß die Thür und speiste dann auf Einladung des Königs an dessen Tafel. Nach dem Abendessen verabschiedete er sich, indem er sagte, er wollte zeitig zur Ruhe gehen, um die Ermüdung des Tages los zu werden.
Allein er ging nicht zur Ruhe, sondern begab sich zu seinen Brüdern, die seiner im Walde harrten. Den anderen Tag sollte Flinkhand die prächtigen Kleider anziehen und zum Könige gehen, um das zweite Probestück auszuführen. Der König, welcher ihn für den Mann von gestern hielt, lobte seine Hirtenarbeit und wünschte ihm Glück zu seiner heutigen Aufgabe, nämlich am Abend die Pforte zu verschließen. Des Königs Tochter hatte wieder durch die Thürspalte nach dem stattlichen[S 54] Manne gespäht und sagte seufzend: »Wenn ich könnte, ich schaffte die böse Hexe von der Pforte fort, damit diesem theuren Jünglinge kein Leid geschähe, den ich mir zum Gemahl wünsche.«
Flinkhand, der genau wußte, wie es sich mit dem Pfortenriegel verhielt, ging vom Könige gerades Wegs zum Schmied und ließ sich eine starke eiserne Hand machen. Als am Abend alle Welt im Schlosse zur Ruhe gegangen war, machte er Feuer an und ließ darin die Eisenhand rothglühend werden. Darauf stellte er eine Leiter gegen die Pforte, denn seine Körperlänge reichte nicht hinan. Von der Leiter aus legte er die glühende Eisenhand an den Riegel, und in demselben Augenblick hatte die Hexe, die darin steckte, zugepackt und die Hand ergriffen, welche sie für eine natürliche hielt. Als sie aber den brennenden Schmerz fühlte, fing sie so an zu brüllen, daß alle Wände bebten und viele Schläfer im Schloß durch den Lärm aufgeweckt wurden. Aber Flinkhand hatte in demselben Augenblick, wo die Eisenhand ihn selbst vor dem Griffe der Hexe geschützt hatte, den Riegel vorgeschoben, so daß die Pforte verschlossen war. Gleichwohl blieb er wach, bis der König am Morgen aufstand und die Sache selbst in Augenschein nahm. Die Pforte war noch verriegelt. Der König lobte die Geschicklichkeit des Jünglings, der schon zwei schwierige Arbeiten ausgeführt hatte und lud ihn zu Mittag zu Gaste. Flinkhand aß sich an des Königs Tafel satt und wußte sich auch angenehm zu unterhalten, bis er endlich um Erlaubniß bat, nach Hause zu gehen, und auszuruhen, da er die ganze vorige Nacht kein Auge zugethan, auch noch mancherlei Vorbereitungen für den[S 55] kommenden Tag zu treffen habe. Er ging dann in den Wald, wo die Brüder ihn längst erwarteten und wissen wollten, wie das Probestück abgelaufen wäre. Da nun die starken Brüder sich einander nicht beneideten und keiner voraus wissen konnte, wen endlich das Glück treffen würde, Schwiegersohn des Königs zu werden, so freuten sie sich gemeinschaftlich des gelungenen Werkes.
Am folgenden Morgen wurde Scharfauge mit dem prächtigen königlichen Anzuge bekleidet und ausgeschickt, um das dritte Probestück auszuführen. Nicht minder stolz und anmuthig wie die beiden andern Brüder trat er vor den König, und bat um die Erlaubniß, das letzte Probestück zu unternehmen. Der König sagte: »Ich freue mich sehr, daß es euch möglich gewesen ist zwei Arbeiten zu vollbringen, welche bis auf den heutigen Tag noch Keiner ausführen konnte, so viel ihrer auch von allen Seiten zusammenströmten, um den Versuch zu machen. Dennoch fürchte ich, daß ihr die dritte Arbeit nicht zu Stande bringen werdet, denn das Ziel, welches ihr treffen müßt, steht sehr hoch und ist ein kleiner Körper.« Scharfauge erwiederte: »Wer euer Schwiegersohn werden will, der darf nichts für schwer achten, denn so großes Glück fällt Niemanden im Schlafe zu.« Darauf gab der König die Erlaubniß, am folgenden Morgen das Probestück zu unternehmen. Aber des Königs Tochter, welche wiederum durch die Thürspalte nach dem Jüngling gespäht hatte, seufzte mit Thränen in den Augen: »Könnte ich etwas für diesen Jüngling thun, daß er morgen zum dritten Male Sieger bliebe, ich gäbe Hab' und Gut dafür —um ihn zum Gemahl zu erhalten.«[S 56]
War schon das erste und zweite Mal eine große Menge Volks von allen Seiten herbei gekommen, um die Wunderwerke zu sehen, so waren heute die Tausende gar nicht mehr zu zählen. Auf dem Gipfel eines Berges stand der Apfelträger, der in solcher Höhe nicht viel größer aussah als eine Krähe, und ihm sollte Scharfauge den Apfel vom Munde weg schießen, so daß der Pfeil ihn in der Mitte spaltete. Niemand hielt die Sache für möglich. Gleichwohl fürchtete der Mann oben, der den Apfel am Stiele im Munde zu halten hatte, der Schütze könnte doch vielleicht in's Ziel treffen, darum beschloß er in seinem mißgünstigen Sinne, dem Schützen die an sich schwere Aufgabe noch schwerer zu machen. Er faßte nicht, wie vorgeschrieben war, den Apfel mit den Zähnen am Stiele, sondern steckte den halben Apfel in den Mund und dachte: je kleiner ich den Gegenstand mache, auf den er zielen muß, desto weniger kann er sehen und treffen. Aber für Scharfauge war der halbe Apfel nicht minder deutlich als der ganze. Er zielte einige Augenblicke mit seinem durchdringenden Blicke, schnellte den Pfeil vom Bogen und o Wunder! der Apfel war mitten durchgespalten, so daß beide Hälften genau gleiche Größe hatten. Der neidische Apfelhüter hatte zugleich den verdienten Lohn für seine Bosheit erhalten, denn da Scharfauge gerade auf die Mitte des Apfels gezielt hatte, der Mann aber dessen größere Hälfte im Munde hielt, so hatte der Pfeil von beiden Seiten des Mundes ein Stück Fleisch mit weggerissen. Als der entzwei geschossene Apfel dem Könige zum Beweise überreicht wurde, brach die Menge in ein Freudengeschrei aus. Ein solches Wunder hatte sich noch[S 57] nicht begeben. Des Königs Tochter vergoß Freudenthränen, da ihres Herzens Wunsch in Erfüllung gegangen war; der König aber lud Scharfauge ein, zu ihm zu kommen, damit er ihn sofort seiner Tochter verloben könne. Scharfauge lehnte es ehrfurchtsvoll ab mit den Worten: »Vergönnt mir, den heutigen Tag mich nach der Arbeit zu erholen! morgen wollen wir uns der Freude ergeben!« Er wollte sich nämlich keines Fehls gegen seine Brüder schuldig machen, welche gleich ihm ihren Theil der Arbeit gethan hätten: das Loos mußte entscheiden, welchem von ihnen der Lohn zufallen sollte.
Als Scharfauge zu seinen Brüdern kam, erzählte er ihnen den Hergang, und sie freuten sich erst noch mit einander wie die Kinder, ehe sie das Loos warfen. Nach Gottes Fügung brachte das Loos dem Scharfauge Glück; er sollte nun des Königs Schwiegersohn werden. Noch einmal schliefen die Brüder beisammen, dann schlug die bittere Trennungsstuude, Scharfauge begab sich in die Königsstadt, Schnellfuß und Flinkhand machten sich in die Heimath zu ihren Eltern auf.
Nach ihrer Rückkehr kauften die beiden reichen Brüder sich viele Güter und Ländereien, so daß ihr Gebiet bald einem kleinen Königreiche glich. Scharfauge hatte Alles seinen Eltern und Brüdern geschenkt, da er, als Schwiegersohn des Königs, seines eigenen Vermögens nicht mehr bedurfte. Die Eltern freuten sich über das Glück ihrer Kinder, nur war der Mutter das Herz oft schwer, weil ihr dritter Sohn so weit von ihnen in der Fremde lebte, daß sie nicht hoffen durfte ihn wieder zu sehen. Als aber die Eltern später gestorben waren, da hatten Schnellfuß und[S 58] Flinkhand keine Ruhe mehr in der Heimath, sie verpachteten ihre Besitzungen und streiften wieder in fremden Landen umher, um neue Reichthümer und Schätze durch ihre Gaben zu erwerben. Wie weit ihre Wanderung reichte, was für Thaten sie auf derselben verrichteten und ob sie später wieder in die Heimath zurückkehrten, darüber kann ich euch nichts weiter melden. Aber Scharfauge's Geschlecht muß noch heutiges Tages in dem Lande wohnen, wo der Stammvater einst das Glück hatte, Schwiegersohn des Königs zu werden.