Der dritte Bruder, Scharfauge, der seinen Weg gen Abend genommen hatte, schweifte lange von einem Orte zum andern, ohne einen passenden und lohnenden Dienst zu finden. Als geschickter Schütze konnte er zwar allenthalben soviel erwerben, um seinen täglichen Unterhalt zu bestreiten, aber was hatte er dann bei der Heimkehr mit nach Hause zu bringen? Mit der Zeit war er auf seiner Wanderung in eine große Stadt gerathen, wo man nur von dem Unglück sprach, das den König schon drei Mal getroffen hatte, und das Niemand zu begreifen, geschweige zu verhüten vermochte. Die Sache verhielt sich so. Der König hatte in seinem Garten einen kostbaren Baum, der wie ein Apfelbaum aussah, aber goldene Aepfel trug, von denen manche so groß waren wie ein großes Knäuel Garn, und viele tausend Rubel werth sein[S 43] mochten. Es läßt sich denken, daß ein solches Obst nicht ungezählt blieb, und daß Nacht und Tag Wachen rings umher standen, um jeden Diebstahl zu verhüten. Trotzdem war schon drei Nächte hintereinander immer einer der größeren Aepfel gestohlen worden; man schätzte den Werth eines solchen auf sechstausend Rubel. Die Wachen hatten weder den Dieb gesehen noch seine Spur gefunden. Scharfauge dachte sich gleich, daß hier eine ganz besondere List obwalte, die er mit seinem durchdringenden Blick wohl herausbringen könnte. Er meinte, wenn der Dieb nicht körperlos und unsichtbar zum Baume kommt, so wird er meinem scharfen Auge nicht entgehen. Er bat deßhalb den König um die Erlaubniß, sich in den Garten begeben zu dürfen, um ohne Vorwissen der Wächter seine Beobachtungen anzustellen. Als er die Erlaubniß erhalten hatte, machte er sich im Wipfel eines hohen Baumes, der nicht weit von dem Goldapfelbaume stand, ein Versteck zurecht, wo Niemand ihn gewahr werden konnte, während sein scharfes Auge überall hin reichte und Alles, was vorging, sehen konnte. — Brotsack und Milchfäßchen nahm er mit sich, damit er nicht genöthigt wäre seinen Schlupfwinkel zu verlassen, falls das Wachen sich in die Länge zöge. Den Goldapfelbaum und was rings um denselben vorging, behielt er nun unausgesetzt im Auge. Die Wachtsoldaten hatten um den Baum herum drei so dichte Kreise geschlossen, daß kein Mäuslein unbemerkt hätte durchschlüpfen können. Wenn der Dieb nicht etwa Flügel hatte, auf dem Boden konnte er nicht an den Baum gelangen. Den ganzen Tag über bemerkte Scharfauge nichts, was einem Diebe ähnlich gesehen hätte. Bei[S 44] Sonnenuntergang flatterte ein kleiner gelber Schmetterling um den Apfelbaum herum, bis er sich endlich auf einen seiner Zweige niederließ, an welchem gerade ein sehr schöner Apfel hing. Daß ein kleiner Schmetterling keinen goldenen Apfel vom Baume fortbringen konnte, begreift Jeder so gut wie Scharfauge, allein da dieser nichts Größeres gewahr wurde, so verwandte er kein Auge von dem gelben Schmetterling. Die Sonne war längst untergegangen und auch die Abendröthe verschwand allmählich vom Horizont, aber die um den Baum herum aufgestellten Laternen gaben so viel Licht, daß man Alles sehen konnte. Der gelbe Schmetterling saß immer noch unbeweglich auf seinem Zweige. Es mochte um Mitternacht sein, als dem Wächter auf dem Baume die Augen ein wenig zufielen. Wie lange er geschlummert hatte, wußte er nicht, als aber seine Augen wieder auf den Apfelbaum fielen, sah er, daß der gelbe Schmetterling nicht mehr auf dem Zweige saß, — noch mehr erschrak er, als er entdeckte, daß auch der herrliche Goldapfel von diesem Zweige verschwunden war. Ein Diebstahl war geschehen, daran war nicht zu zweifeln, allein wenn der geheime Wächter die Sache erzählt hätte, so würden die Leute ihn für verrückt gehalten haben, denn soviel konnte ein Kind einsehen, daß ein Schmetterling nicht im Stande war, den Goldapfel weg zu tragen. Am Morgen gab es wieder großen Lärm, als man fand, daß ein Apfel fehle, ohne daß einer der Wächter eine Spur vom Diebe gesehen hätte. Da trat Scharfauge abermals vor den König und sagte: »Ich habe zwar den Apfeldieb ebensowenig gesehen wie eure Wachen, aber wenn ihr in der Stadt oder in der Nähe derselben einen[S 45] zauberkundigen Mann habt, so weiset mich zu ihm, mit seiner Hülfe hoffe ich künftige Nacht des Diebes habhaft zu werden.« Als er erfahren hatte, wo der Zauberer zu finden sei, ging er unverzüglich zu ihm. Die Männer rathschlagten dann, wie sie die Sache wohl am besten anfangen könnten. Nach einiger Zeit rief Scharfauge »Ich habe einen Plan! kannst du durch Zauber einem Spinngewebe solche Festigkeit geben, daß die Fäden auch das stärkste Geschöpf festhalten, dann legen wir den Dieb in Fesseln, so daß er uns nicht wieder entrinnt.« Der Zauberer sagte, das sei möglich; nahm drei große Kreuzspinnen, machte sie durch Hexenkraft so stark, daß kein Geschöpf sich aus ihrem Gewebe losmachen konnte, that sie in ein Schächtelchen und gab sie dem Scharfauge. »Setze diese Spinnen, wohin du willst, und zeige ihnen mit dem Finger an, wie sie ihr Netz ziehen sollen, so spinnen sie alsbald einen Käfig um den Gefangenen, aus welchem nur Mana's[15] Weisheit erlösen kann; übrigens eile ich dir zu Hülfe, wenn es dessen bedarf.«