"In zwei Wochen ist Heiligabend, und ihr habt immer noch keine Wünsche geäußert", sagte Papa eines Abends, bevor er sich mit Mama auf den Weg zu einer Weihnachtsfeier im Kollegenkreis machte. Er schaute uns dabei erwartungsvoll an. "Das bin ich von meinen beiden Mädchen ja überhaupt nicht gewöhnt. Lasst euch etwas einfallen, damit wir es noch frühzeitig besorgen können."
Er hatte ja Recht, aber die Vorfreude, mit der wir früher immer unsere Wunschzettel schrieben und voller Spannung am nächsten Morgen nachschauten, ob sie auch von der Fensterbank verschwunden waren, bestand schon lange nicht mehr. Wir wurden ja im Laufe des Jahres von unseren Eltern mit Geschenken regelrecht überhäuft. Was blieb da noch zu wünschen übrig? Meine Schwester Julia und ich hatten doch alles, was das Herz begehrte und trotzdem waren wir darüber nicht glücklich.
Vater arbeitete als Personalchef in einem Kaufhaus und Mutter fungierte als seine Sekretärin. Wir lebten in einem hübschen Häuschen am Rande einer schönen Kleinstadt und es fehlte uns an nichts. Der einzige Nachteil bestand allerdings darin, dass die Eltern, bedingt durch ihre berufliche Laufbahn, wenig Zeit für uns Kinder hatten. Schon sehr früh wurden wir deshalb zur Selbständigkeit erzogen.
Nachdem die Eltern das Haus verlassen hatten, wollten Julia und ich uns einen schönen Videoabend mit Harry Potter gönnen.
Diese Weihnachtsfeiern dauerten ohnehin ziemlich lange, das wussten wir aus den vergangenen Jahren.
Irgendwann, so gegen Mitternacht, müssen uns dann doch die Augen vor Müdigkeit zugefallen sein und wir schliefen auf der Couch im Wohnzimmer ein.
Ein lautes Geräusch riss mich wenig später aus dem Schlaf. Erschrocken wachte ich auf und brauchte eine Weile, bis ich wusste, was es war: Es klopfte jemand an unsere Haustür, und zwar ganz gewaltig.
"Hast du das gehört, Steffi?", fragte Julia, die ebenfalls aufgewacht war. Ihre Stimme klang ängstlich. Bevor ich etwas erwidern konnte, erklang das Pochen erneut, und wir hielten den Atem an. Gemeinsam gingen wir nun in die Diele und machten Licht. Da öffnete sich plötzlich die Tür und - wir trauten unseren Augen nicht - der Weihnachtsmann trat ein, eine brennende Laterne in der rechten Hand. "Euch schickt der Himmel!", rief er freudig aus. "Ich brauche dringend Hilfe, bin mit meinem beladenen Schlitten drüben bei den Feldern notgelandet, weil es einem meiner Rentiere übel geworden ist. Als ich dann weiterziehen wollte, steckt der Schlitten fest."
"Schlitten?", riefen Julia und ich gleichzeitig und schauten uns ungläubig an.
"Ja, und ich muss auf dem schnellsten Wege wieder zurück zu meinen Engeln. Da es in den letzten zwei Adventwochen im Himmel viel zu tun gibt für uns, will ich mit ihnen die Weihnachtsfeier nebst anschließender Bescherung auf morgen vorverlegen. So bin ich auf die Erde gekommen, um die Geschenke für sie zu besorgen und nun ist mir das passiert."
Meine Schwester und ich schauten uns an. Dann fragte Julia: "Wie können wir dir helfen?"
"Habt ihr Schaufeln? Dann könnten wir zu dritt den Schlitten vom Schnee befreien", erklärte der Weihnachtsmann.
Wir zogen uns rasch warme Anoraks an und holten aus unserem kleinen Schuppen im Garten zwei Schaufeln. Der Weihnachtsmann ging voraus und dank seiner Laterne fanden wir auch flugs den Weg zum Schlitten. Ja, er steckte fest und da es sehr kalt geworden war, musste er sogar am Boden festgefroren sein. Wir räumten alle Päckchen in den Schnee und versuchten, mit den Schaufeln die Kufen frei zu bekommen. Dabei kamen wir ganz gewaltig ins Schwitzen, doch unsere Mühe wurde belohnt: schon bald hatten wir es geschafft, den Schlitten freizulegen. Wir halfen dem Weihnachtsmann, die Päckchen wieder sorgfältig aufzuladen und wünschten ihm eine gute Heimfahrt.
"Halt!", rief er, "ich möchte euch für eure Hilfe einen Wunsch erfüllen. Was hättet ihr denn gerne?"
Julia und ich schauten uns an. "Ich würde gerne wissen, wie im Himmel Weihnachten gefeiert wird", sagte ich und Julia nickte.
Der Weihnachtsmann lachte. "Dann steigt ein und lasst uns keine Zeit mehr verlieren."
Nun ging es los und bald waren wir so hoch, dass die Lichter der Städte, über die wir flogen, nur noch wie winzige Sterne ausschauten. Immer weiter, so dicht am Mond vorüber, dass man ihn hätte greifen können. Unzählige kleine Sternschnuppen schwirrten um unsere Köpfe und dann waren wir am Ziel angekommen. Das Himmelstor stand schon offen, und ein Engel begrüßte uns. "Wir haben auf dich gewartet, Weihnachtsmann. Du warst lange fort."
"Sei unbesorgt, Michael, eine kleine Panne. Ich habe übrigens Besuch mitgebracht. Julia und Steffi, sie haben mir aus der Patsche geholfen und werden mit uns feiern."
"Es ist alles bereit, dann seid herzlich willkommen, Menschenkinder." Engel Michael zwinkerte uns zu.
"Begleite du unsere Gäste in den Festsaal, Michael. Ich will nur noch rasch die Rentiere abspannen, ihnen Essen und Trinken geben, und die Geschenke unter dem Tannenbaum verteilen. Dann komme ich zu euch." Kaum hatte der Weihnachtsmann zu Ende geredet, war er auch schon mit seinem Schlitten hinter einer Wolke verschwunden.
Wenig später standen wir in dem größten Raum, den ich jemals gesehen hatte. Alles sah so schön festlich aus. An den Wänden hingen Girlanden aus Tannen, mit bunten Lichterketten verziert. Mehrere Tische standen in der Mitte des Saales, liebevoll gedeckt, mit Zweigen und Kerzen geschmückt. In gleichmäßigen Abständen lagen Orangen, Äpfel, Nüsse und Schokolade auf goldenen Tellern verteilt und jeden Platz zierte ein Kärtchen, auf dem in goldener Schrift der Name des jeweiligen Engels stand.
Wir konnten uns gar nicht sattsehen an all dieser Schönheit, die keinerlei Übertriebenheit besaß. Hier gab es nichts Protziges und trotzdem fehlte es an Nichts. Zwei Engel kamen und nahmen uns in ihre Mitte. "Kommt mit auf eure Plätze, gleich fängt die Vorführung an", baten sie und wir folgten staunend. Kurz darauf schon waren alle Tische besetzt, und die großen und kleinen Engel in ihren langen weißen Gewändern plapperten fröhlich durcheinander. Dann kam der Weihnachtsmann, stellte sich an das Kopfende einer der Tische und hob die Arme. Sofort wurde es still. "Meine lieben Engel, heute feiern wir unser Fest nicht wie üblich unter uns, sondern mit zwei lieben Menschen von der Erde. Bevor ich aber unseren Chor bitte, mit ihren Liedern die Feier einzuleiten, wollen wir erst unser Eingangsgebet gemeinsam sprechen."
Anschließend setzte sich der Weihnachtsmann und eine Schar Engel erhob sich von ihren Plätzen und stellten sich vor die Bühne, deren Vorhang noch zugezogen war.
Es waren reine, schöne Stimmen, die da erklangen und mir eine Gänsehaut über den Körper jagte. Später tanzten sie, führten ein kleines Spiel auf und wieder wurde gesungen. Zwei Engel trugen einen Dialog vor und andere musizierten auf ihren Instrumenten. Zwischendurch wurde gegessen und getrunken, geplappert und gelacht. Im Anschluss daran wurden Gedichte und kleine Geschichten vorgetragen und zu guter Letzt kam die Krönung des Festes: Die Bescherung!
Der Weihnachtsmann trat nun zu dem Bühnenvorhang und zog an einer langen Kordel. Der Vorhang teilte sich und es wurde der größte Tannenbaum sichtbar, den wir Kinder jemals gesehen hatten. Im Nu sprangen die Engel von ihren Stühlen und rannten nach vorn. Zuerst traten die Kleinen von ihnen vor die Riesentanne und suchten ihre Geschenke, anschließend waren die Älteren an der Reihe. Nachdem alle wieder ihre Plätze eingenommen hatten, sangen sie "Stille Nacht, Heilige Nacht", wobei Julia und ich mit einstimmten. Dann begann das große Auspacken, gefolgt von unzähligen Ausrufen der tiefen Freude. Der Weihnachtsmann trat plötzlich zu uns Schwestern und reichte jeder ein kleines Päckchen. "Das ist für euch!", erklärte er und zwinkerte uns zu. "Frohe Weihnachten!"
Ungläubig schaute ich ihn an: "Du hättest uns nichts zu geben brauchen, dass wir hier sein durften und die Freude der Engelschar miterleben konnten, ist doch das größte Geschenk überhaupt", sagte ich mit einem Kloß im Hals.
"Nun packt es schon aus!", forderte er uns auf. Julia hatte das glänzende Seidenpapier zuerst entfernt und ein Büchlein kam zum Vorschein. ‚Im Einklang mit der Natur - Basteln in der Weihnachtszeit', lautete der Titel. Dann packte ich das meine aus. ‚Der Weg in die Stille', hieß es und enthielt Gedichte und Bibelverse. Für einen Moment waren wir sprachlos, und dann bedankten wir uns herzlich dafür. Der Weihnachtsmann winkte freundlich ab und sagte: "Nun bring ich euch wieder zur Erde, damit sich die Eltern keine Sorgen machen, wenn sie heimkommen." Woher wusste der Weihnachtsmann wohl, dass Mama und Papa abwesend waren? Schoss es mir durch den Kopf.
Als wir den Festsaal verließen, sangen die Engel noch ein Lied und Michael öffnete uns die Himmelspforte. Er winkte uns nach und dann ging es zur Erde zurück….
"Steffi!" Schlaftrunken erwachte ich. Das Fernsehgerät war noch an und Harry Potter längst vorüber, doch mein Interesse galt etwas ganz anderem: Dem Weihnachtsfest bei den Engeln. Hatte ich das etwa nur geträumt? Julia erhob sich. "Wir sind fest eingeschlafen, jetzt tun mir alle Knochen weh. Ich lege mich lieber ins weiche Bett, gute Nacht, Steffi." Ich beobachtete, wie meine jüngere Schwester das Wohnzimmer verließ, und hörte kurz darauf ihre Zimmertür etwas laut ins Schloss fallen.
Ich war nun doch etwas verwirrt. Einer inneren Eingebung folgend erhob ich mich und ging in die Diele, wo unsere Anoraks hingen. Das Licht brannte und ich hätte schwören können, es ausgeschaltet zu haben, nachdem die Eltern gegangen waren. Ich betrachtete mir die Anoraks ganz genau. Bildete ich es mir nur ein, oder waren da wirklich unzählige kleine goldene Staubkörnchen auf unseren Jacken zu sehen?
‚Engelstaub', dachte ich plötzlich, so hatte Großmutter immer den feinen Glitter genannt, den man über die Adventskränze streuen kann. Ich war vierzehn, liebte zwar Fantasiegeschichten über alles, doch ich lebte in der Realität. Ich atmete tief durch.
Mit meinen Gedanken weit fort machte ich den Fernsehapparat aus und löschte das Licht. An Schlaf war allerdings nicht zu denken, weil mich mein ‚Traumerlebnis' nicht losließ.
Ein paar Tage später saßen wir beim Abendessen, als Papa wieder fragte: "Habt ihr euch denn endlich überlegt, was ihr zu weihnachten wollt?" Bevor Julia etwas erwidern konnte, platzte ich heraus: "Ja, das haben wir. Wir möchten in diesem Jahr Weihnachten nur mit euch feiern, ohne Verwandte und Freunde und einem Festmahl, an dem Mama die meiste Zeit in der Küche steht. Ohne Schnickschnack. Nur wir vier allein, gemütlich, mit einem kleinen, aber guten Essen, mit Kirchgang und mit Singen vor dem Tannenbaum. Mit Weihnachtsplätzchen und Nüssen knacken und mit schöner Musik." Als ich geendet hatte, blieb es für einen Augenblick still, und die Eltern schauten uns für einen Moment sprachlos an. Dann sagte Mama mit belegter Stimme: "Steffi, Julia, ihr verzichtet in diesem Jahr auf Geschenke? Das verstehe, wer will."
"Wir könnten doch in den Schwarzwald fahren, in unsere schöne Ferienwohnung", mischte sich Julia ins Gespräch und ich war froh darüber, dass sie auf meinen Vorschlag eingegangen war.
"Das wäre eine gute Idee, Julia", sagte Papa, "Mama hätte dann auch einmal ein richtiges Weihnachtsfest, ohne Trubel, Hektik und ne Menge Arbeit. Doch auf Geschenke müsst ihr deshalb nicht verzichten."
"Das Gefühl, eine "richtige" Familie zu sein, wäre aber das Größte, Papa", erwiderte ich.
So kam es, dass wir uns zwei Tage vor dem Heiligen Abend auf den Weg in unsere Ferienwohnung machten und dort das schönste Fest seit Jahren verbrachten. Natürlich bekamen Julia und ich etwas geschenkt, eine Kleinigkeit nur, aber die gemeinsame Zeit mit unseren Eltern war wohl das Tollste von allem und wurde zu einem unvergessenen Erlebnis. Meinen ‚Traum' allerdings vergaß ich niemals, er blieb für immer ein Teil der Erinnerung an meine Kindheit.