Wenn die Tage kürzer werden, stürmische Winde die letzten Blätter zu schmutzigen braunen Haufen auftürmen, die dünne Lederjacke bis zum Frühling in den Keller verbannt wird, dann beginnt meine Leidenszeit. Das ist der Zeitpunkt, von dem an ich in Supermärkten ängstlich die ersten Anzeichen suche, Stände mit Extraangeboten kritisch in Augenschein nehme, mein Blick in den Straßen der City misstrauisch nach oben wandert und die in den Kaufhäusern gespielte leise Musik, die sonst weitgehend ungehört an den Ohren vorbeiplätschert, von mir kurz auf ihren Inhalt analysiert wird. Dann plötzlich, wenn man es am allerwenigsten erwartet, ist es so weit. Es kann sich zunächst harmlos durch eine Verschärfung der Parkplatzsituation in der Einkaufstraße ankündigen, ein zusätzlicher Stand mit Lebkuchen beim Lebensmitteldiscounter ist ein weiteres, vielleicht sogar noch anders zu erklärendes Indiz. Spätestens jedoch wenn große, geschweifte Lichtsterne die Straßen überspannen, ist es nicht mehr wegzuleugnen: Die Weihnachtszeit beginnt.
Es ist jedes Jahr dasselbe. Obwohl ich eigentlich klüger sein sollte, die Erfahrung mir gezeigt haben müsste, dass das Kommende für mich einerseits immer wieder unabwendbar, zum anderen aber durchaus endlich und somit überlebbar ist, kann ich instinktive Abwehrreaktionen nicht vermeiden. Der lange sehnsüchtige Blick in die Schaufenster der Reisebüros, die mit ihren Angeboten scheinbar Alternativen versprechen, gehört genauso dazu wie die von mir immer wieder zaghaft geäußerten Vorschläge, in diesen Jahr doch vollständig auf die jahreszeitübliche Umgestaltung der Wohnung, nicht absolut notwendige Geschenke und auf das übermäßige Nutzen von Kerzen zu verzichten.
Ich bin ein Weihnachtsmuffel. Das sind nicht meine Worte, sondern hier handelt es sich um einen Ausdruck meiner Frau, mit dem sie mein Verhalten in dieser Zeit beschreibt, wenn sie gut gelaunt ist. Sie ist nicht immer gut gelaunt, und daher gibt es auch noch andere Ausdrücke für mein Vorweihnachtssyndrom, die ich hier aber lieber nicht erwähnen möchte. Die Symptome dieser Andersartigkeit sind schnell beschrieben. Ständige Wiederholungen kitschiger Weihnachtslieder, insbesondere solcher in die Jahre gekommener Produkte der amerikanischen Weihnachtshitproduktion, erzeugen bei mir kein glückliches Glänzen in den Augen, sondern zunehmendes Unbehagen. Die inzwischen auf nahezu zwei Monate ausgedehnten Feierlichkeiten eines über 2000 Jahre zurückliegenden Kindergeburtstages, die trotz der beinahe panikartigen Anstürme auf die geschmückten Kaufhäuser als "die stille Jahreszeit" bezeichnet werden, lösen bei mir kein Entzücken, sondern eher eine Mischung aus geringschätzigem Lächeln und angeekeltem Nasekräuseln hervor. Mit "stille Nacht" verbinde ich eher einen warmen Sommerabend am Meer als das Ende der vorweihnachtlichen Einkaufsorgien, die Nacht also, mit der das Fest der Liebe startet, in der man gemeinhin nach einem ausgiebigen Essen erschöpft in den Sessel zurücksinkt und darüber nachdenkt, wie die in den nächsten Tagen zusätzlich aufgenommenen Kalorien zu Beginn des neuen Jahres wieder abgebaut werden können. Mir ist schon klar, dass es gerade in der Weihnachtszeit nicht sonderlich populär ist, solche Gedanken zu äußern, aber der, dessen Geburt man mit diesem gewaltigen Aufwand Jahr um Jahr erneut feiert, hätte nach meiner festen Auffassung ein gewisses Verständnis für mich.
Selbst diese vermutete Zustimmung höchster Autoritäten hilft nicht viel, wenn meine Frau sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Konkret handelte es sich darum, dass ich sie bei den Weihnachtseinkäufen begleiten sollte. Obwohl sie meine Einstellung natürlich kannte, bestand sie an diesem Adventssamstag auf meine Begleitung. Mit einer Flut aus tatsächlichen, fast wahren und einigen, wie ich nun zugeben muss, erfundenen Gründen, versuchte ich meinem Schicksal zu entgehen. Selbst der sonst durchaus taugliche Versuch, sofort nach dem Frühstück in alten, verwaschenen Jeans und einem verblichenen Sweatshirt unaufschiebbare Aufräumarbeiten im Keller zu beginnen, half nichts. Ihre Argumente, mit denen sie meine Mitwirkung bei den Einkäufen einforderte, waren so bestechend, dass auch ich kaum etwas dagegen sagen konnte. Zwar gelang es mir noch, zum Zeichen meines Protestes, die eigentlich für die Kellerarbeiten vorgesehenen Kleidungsstücke anzubehalten und sie durch einen dazu passenden alten Mantel zu ergänzen, aber 30 Minuten später hatten wir uns in die unglaublich große Menge Parkplatz suchender, teilweise wild hupender Autofahrer eingereiht.
Paradoxerweise war meine Stimmung gar nicht so schlecht, wie es eigentlich zu erwarten war. Das lag wohl daran, dass alles genauso kam, wie ich befürchtet und natürlich auch vorab geäußert hatte. Vor den Parkhäusern blickten rote "Besetzt"-Schriftzüge, der Verkehr war mörderisch und als wir nach weiteren 30 Minuten für unser Auto einen Platz im absoluten Halteverbot ergattert hatten, drängelten wir uns mit Tausenden anderen grimmig aussehenden Menschen in das erste Kaufhaus, welches uns musikalisch mit einer besonders schrecklichen Orchesterversion von Bing Crobys "White Christmas" empfing. Schicksalsergeben trottete ich hinter meiner Frau her und musste dabei schon ein großes Maß an Geschicklichkeit gepaart mit einer entschlossenen Rücksichtslosigkeit anderen Einkaufenden gegenüber aufwenden, um den Anschluss nicht zu verlieren. Bing Croby war durch einen anderen Interpreten abgelöst worden, der uns allen musikalisch die Geschichte von Rudolf, dem rotnäsigen Renntier, näher brachte, als wir endlich in der 3. Etage den ersten Einkaufsstopp einlegen konnten. So verging Stunde um Stunde, und ich hatte es längst aufgegeben, die Anzahl der einzelnen Geschenke mitzuzählen. In jeder Hand trug ich drei gefüllte Plastiktüten, und ich musste wohl in meinem schmuddeligen Kelleroutfit und mit der inzwischen eingetretenen körperlichen Erschöpfung einen solch jämmerlichen Eindruck gemacht haben, dass meine Frau mitleidig zu mir aufsah und den Vorschlag machte, dass ich mit dem vielen Gepäck am Eingang des Kaufhauses auf sie warten solle, während sie abschließend noch einige wenige Dinge besorgen könne. Mit großer Dankbarkeit und Erleichterung nahm ich den Vorschlag auf und, um meinen Einsatz beim gemeinsamen Einkauf zu dokumentieren, schlurfte ich demonstrativ erschöpft in Richtung Erdgeschoss.
Vor dem Kaufhaus wurde ich von einer unangenehmen feuchten Kälte empfangen, die mich schnell wieder in den beiderseits durch Glastüren abgegrenzten Windfang des Kaufhauses zurücktrieb. Nachdem ich meine vielen Einkaufstüten in die Ecke gelegt hatte, merkte ich, wie erschöpft ich wirklich war, und sah mich verzweifelt nach einer Sitzgelegenheit um. Natürlich gab es so etwas nicht, doch als ich mich dankbar an meine alte Hose erinnerte, ließ ich mich etwas abseits von den strömenden Menschenmassen neben den viele Tüten auf dem Fußboden nieder. Von dieser Position aus wirkte das wirre Treiben um mich herum besonders merkwürdig und ziellos. Wie die Ameisen drängelten sich die Menschen hastig hin und her, nur dass ich das Gewimmel nicht wie bei einem Ameisenhaufen von oben, sondern von unten betrachtete. In dieser Situation ging mir wieder einmal das Paradoxe dieser vorweihnachtlichen Hektik durch den Kopf, und so wie ich da saß, steigerte sich mein Selbstmitleid.
Plötzlich wurde die nicht endende Reihe von Knien, Oberschenkeln, Mänteln und Stiefeln, die in meiner Augenhöhe an mir vorbei paradierten, durch ein rundes Gesicht unterbrochen und die kleinen braunen Augen eines etwa 5-jährigen Mädchen sahen mich freundlich, aber neugierig an. "Wie geht es dir?", fragte sie freundlich, und als ich in meiner Überraschung nicht sofort antwortete, ergänzte sie: "Schlecht, nicht wahr, du siehst auch so traurig aus." Ohne mir ernsthaft eine Chance zur Antwort zu geben, plapperte sie weiter: "Mama hat gesagt, es geht dir schlecht, weil du obda..., ondach.., weil du keine Wohnung hast. Und deshalb ... und weil man Weihnachten nicht nur an seine Geschenke, sondern auch an Menschen denken soll, denen es schlecht geht und ...". Sie brach verlegen ab, fasste in Ihre Tasche und zog eine Münze hervor. Unentschlossen sah sie auf die Münze, auf mich, und dann drehte sie sich Hilfe suchend um. Am anderen Ende des Vorraumes stand eine junge Frau, die lächelte und der Kleinen aufmunternd zunickte. Nun fasste sie Mut, sah mich fast zärtlich an, streichelte ganz schnell einmal sanft meine Wange, drückte mir die Münze in die Hand und sagte hastig "Frohe Weihnachten". Noch bevor ich begriff, was da gerade passiert war, hatte sie sich umgedreht und ihre Mutter erreicht. Sekunden später waren beide in dem Menschengetümmel verschwunden.
Ich saß immer noch da und starrte nachdenklich auf die Münze in meiner Hand, als meine Frau auftauchte. Sie sah mich etwas erstaunt an und fragte etwas unsicher: "Du siehst so zufrieden aus. Macht dir heute etwa unser Einkauf Spaß?"
"Ja, heute schon", entgegnete ich lächelnd und umfasste dabei das Geldstück in meiner Tasche.