Die folgende Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit und spielte sich vor vielen, vielen Jahren an einem Ort, den man heute nicht mehr exakt feststellen kann, ab.
Man weiß, dass die Erfindung des ersten Adventkranzes in der Werkstatt eines Wagnermeisters geschah. Eine solche Werkstatt besaß mein Urgroßvater, der ein rechtschaffener Mann, ein guter Vater und Ehemann war. Er lebte in einem kleinen Dorf im nördlichen Niederösterreich und arbeitete an sieben Tagen in der Woche. Die Arbeit eines Wagners ist einfach zu erklären. Er stellte aus Holz Wägen und die dazugehörigen Räder her. Heute ist dieser Beruf ausgestorben, nur wenige Menschen beherrschen die Herstellung solcher Holzarbeiten. Im Gegensatz dazu hatte sich früher in fast jedem Ort ein Wagner angesiedelt und die Werkstatt wurde vom Vater auf den Sohn und dann wieder auf dessen Sohn weitergegeben.
Ich stelle mir die Geschichte also in der alten, mittlerweile nicht mehr existierenden Werkstatt meines Urgroßvaters vor, der nicht nur stolz auf einen, sondern auf zehn Söhne und zwei Töchter blicken konnte. Einer der Buben - es könnte mein Großvater gewesen sein - könnte ihn, so wie es die Erzählung weiß, gegen Ende November eines Jahres um 1900 gefragt haben, wie lange es denn noch dauere, bis endlich das Christkind komme. Wie man sich leicht vorstellen kann, ging dem beschäftigten Vater die ewige Fragerei bald auf die Nerven und er beschloss seinen Sohn zu beschäftigen, damit er selbst weiterhin in Ruhe seine Arbeit verrichten konnte, ohne Angst haben zu müssen, dass sich der Kleine möglicherweise auch noch an einem der Messer oder Holzstücke verletzen könnte.
Als die Fragerei nach ein paar Tagen kein Ende nehmen wollte, nahm er seine Jacke und ging zum Greißler, worüber man sich im Ort damals sehr wunderte, denn das Einkaufen war zu dieser Zeit Angelegenheit der Frauen.
Er aber benötigte dringend etwas aus dem Laden, das ihm wieder Ruhe beim Arbeiten einbringen würde: Kerzen. Ja, er kaufte eine ganze Schachtel kleiner und vier große Kerzen. Weil er es sehr eilig hatte wieder nach Hause zu kommen, erwischte er lauter bunte Kerzen. Er bezahlte und verschwand so rasch, wie er gekommen war.
Daheim aber suchte er nach einem alten, nicht zu großen Gegenstand und stieß auf ein kleines Rad, welches er von einem Leiterwagen abmontiert und gegen ein neues getauscht hatte. Es lag noch in einer Ecke und schien auf ihn und seinen Plan gewartet zu haben. Als sein jüngster Sohn am Nachmittag wieder in die Werkstatt kam und ihn fragen wollte, wie lange er noch bis Weihnachten warten musste, gab er ihm den Reifen, auf dem er 20 kleine und vier große Kerzen befestigt hatte, und erklärte ihm: "Du musst von heute an jeden Tag eine der 24 Kerzen anzünden. Große, dicke Kerzen zeigen dir die Sonntage an. Wenn die letzte Kerze brennt, kommt das Christkind. Zähle aber richtig mit!" Der Bub strahlte. Sein Vater hatte ihm mit diesem Rad das Warten auf den Heiligen Abend verkürzt. Er bedankte sich höflich und lief aus der Werkstatt um den anderen Kindern zu zeigen, was er bekommen hatte. Sein Vater wandte sich lächelnd wieder seiner Arbeit zu. Er hatte erreicht, was er wollte. Von nun an störte ihn keiner mehr mit ständig denselben Fragen.
Weil der kleine Bub den Reifen mit den Kerzen überall im Dorf herzeigte und auch andere Kinder daran Gefallen fanden, häuften sich in der Werkstatt seines Vaters bald die Aufträge. Jeder wollte einen solchen Holzreifen mit Kerzen haben, wie er ihn seinem Sohn geschenkt hatte.
Mit der Zeit tauschten die Menschen den Holzkranz, wie sie ihn nannten, gegen verflochtene Tannen- oder Fichtenzweige und sparten die kleinen Kerzen ein. So entstand durch die Ungeduld eines kleinen Buben der uns allen bekannte Adventkranz in einer Wagnerwerkstatt, wie mein Urgroßvater eine besaß.