Er saß auf dem Boden zwischen Laub und Gestrüpp und versuchte, sich möglichst unauffällig zu verhalten. Man würde ihn doch nur als Penner oder Asozialen beschimpfen. Aber um diese Zeit waren die Menschen meist verträglicher, wie jedes Jahr, wenn es auf Weihnachten zuging. Manche legten ihm sogar ein wenig Geld auf seine Decke, andere gingen an ihm vorbei und schüttelten nur den Kopf. Aber es gab auch diejenigen, die aggressiv auf ihn reagierten und die fürchtete besonders. Daher versuchte er ihnen stets aus dem Weg zu gehen. Vor nicht allzu langer Zeit hätte er sich nicht denken können, dass er mal in eine solche aussichtslose und deprimierende Situation geraten könnte.
Volker Behr war neununddreißig Jahre alt, als seine Frau Bea ihre Süße Tochter Anna zur Welt brachte. Nie hätte er sich vorstellen können, dass irgendetwas dieses Glück und diese Harmonie, die er für seine Familie empfand, trüben könnte. Doch eines Tages wurde er eines Besseren belehrt, als Bea sich mit Anna auf den Weg machte, ihre Eltern zu besuchen. Es war ein ungemütlicher Wintertag. Der Schnee verwandelte sich am Abend in Regen und die Straßen gefroren zu Eisbahnen. Doch Bea freute sich schon so darauf, ihre Eltern wieder zu sehen und ließ sich davon nicht abhalten. In zwei Tagen war Weihnachten und die ganze Familie sollte zusammen feiern. Sie hatten verabredet, dass sie und Anna vorfuhren und Volker später nachkam, weil er noch keinen Urlaub hatte. Sie musste für die Fahrt die Autobahn nehmen. Die Vorfreude auf den Familienbesuch stimmte sie besonders fröhlich und sie trällerte mit ihrer Tochter einige Lieder. Das führte dazu, dass Bea einige Sekunden zu sehr abgelenkt war, um zu bemerken, dass der Lastwagen vor ihr ins Schwanken geriet. So geschah es, dass der Lastwagenfahrer die Kontrolle über sein Fahrzeug verlor und gegen die Leitplanke raste. Bea versuchte noch ihr Fahrzeug umzulenken, doch es war schon zu spät. Alle Bemühungen der Rettungsmannschaft, Bea und Anna lebend zu bergen waren vergeblich.
Volker hatte seinen Lebensinhalt verloren. Mit Alkohol und Schlaftabletten hatte er versucht, die Erinnerungen an seine Familie und den Unfall zu verschleiern. Für ihn hatte sein Leben keinen Sinn mehr. Warum sollte er aufstehen, wozu möge er sich anziehen sollen? Er ging nicht mehr zur Arbeit und zahlte auch keine Rechnungen mehr. Dies führte dazu, dass er seinen Job verlor und aus seiner Wohnung ausziehen musste. Er lebte auf der Straße, schlief auf einer Bank im Park und aß, was andere als Abfall daließen. Ihm waren nur seine Kleider geblieben, die er am Leib trug. Aber von seinem alten Leben war ihm sowieso nichts geblieben, daher war dies das kleinere Leid. Es waren schlimme Jahre, aber besonders schmerzhaft empfand er es immerzu zur Weihnachtszeit. Er beobachtete, wie Mütter mit ihren Kindern Hand in Hand durch die Einkaufsstraße schlendern und sich die Schaufenster ansahen, wie Väter damit beschäftigt waren, einen besonders schönen Tannenbaum auszusuchen, der auch der Familie gefällt und wie die Leute mit ihren schön verpackten Geschenken an ihm vorbei rasten. All das machte ihm bewusst, wie sehr er sich nach seinem alten Leben, seiner Frau und seiner süßen Tochter sehnte. Anna! Oh Anna …
Er spürte ein warmes und weiches Gefühl an seiner Wange, als er aus seinem Schlaf erwachte. Als er seine Augen aufschlug, wurde er von einem wolligen, niedlichen Mischlingshund begrüßt. Volker erhob sich und sagte schmunzelnd: "Na mein Kleiner, zu wem gehörst du denn?"
Als ob der Mischling seine Worte als Einladung verstand, hüpfte er mit einem Satz auf Volkers Schoß und schleckte ihm durchs Gesicht. Da begann eine Kinderstimme immer lauter zu rufen an: "Benny….Benny, wo hast du dich versteckt?"
"Hier" antwortete Volker, "er ist bei mir. Bin wohl eingeschlafen und der Kleine hat mich geweckt!"
Das kleine Mädchen kam näher und hockte sich vor Volker und dem Mischling nieder. "Er ist mir ausgerissen und ich hatte Angst, dass ich ihn nicht wieder finden würde" sagte es.
"Na ja, nun hast du ihn wieder!" Volker lächelte die Kleine an und hob den Mischling von seinem Schoß.
Als Volker sich zum Gehen abwandte sagte das Mädchen: "Benny mag Sie wohl. Sicher hat er gemerkt, dass Sie allein sind. Er ist auch alleine gelassen worden, als er ein Baby war. Man hat ihn ausgesetzt. Aber meine Mami hat ihn mit nach Hause genommen und wir haben ihm ein neues Zuhause gegeben."
Volker drehte sich zu der Kleinen um. Seit er auf der Straße lebte, haben sich alle von ihm abgewandt und er war es nicht gewöhnt, dass jemand Interesse daran zu haben schien, sich mit ihm zu unterhalten. Er war ein wenig scheu der Kleinen gegenüber, aber er mochte sie. Deshalb antwortete er ihr: "Ja, vielleicht wollte er mir nur ein wenig Gesellschaft leisten?"
Er machte noch einen Versuch sich von dem Mädchen abzuwenden, doch dann fragte sie: "Sind Sie auch morgen alleine?"
"Ja" antwortete Volker ehrlich, "morgen auch."
Sie trat von einem Fuß auf den anderen und sagte schließlich: "Aber da ist Weihnachten! Und meine Mama sagt, dass an Weihnachten niemand alleine sein sollte. Warum kommen Sie uns nicht besuchen? Meine Mutter ist eine prima Köchin und Benny würde sich sicher auch darüber freuen!"
Erstaunt sah Volker die Kleine an, die ihn an seine eigene Tochter erinnerte. "Deine Mutter ist ganz sicher eine tolle Köchin, aber ich glaube nicht, dass sie für mich kochen möchte!", erwiderte er mit einem Lächeln und ging davon um sich ein Abendessen zu suchen.
Erschöpft stapfte er durch den dunklen Park, der nur durch eine kleine Laterne und den Schnee, der seit einigen Tagen lag, beleuchtet war. An diesem Tag waren nicht sehr viele Leute da, die durch den Park spazierten, daher waren auch die Mülltonnen leer. Vielleicht morgen, dachte er und ging zurück zu dem Platz, an dem er seine Nächte verbrachte. An der Bank angelangt staunte er, als er das kleine Mädchen erkannte, die auf ihn zu warten schien. Diesmal hatte sie ihre Mutter mitgebracht. Beide hatten ihn nicht bemerkt und er konnte beobachten, wie sie etwas auf seine Bank stellten. Er wartete, bis sie wieder gegangen waren und schlich sich langsam zu seinem Schlafplatz. Volker erstarrte, als er erkannte, was dieses Mädchen und ihre Mutter vorbereitet hatten. Um seine Bank herum waren Kerzen verteilt, die nach Zimt dufteten. Eine Baumwolldecke und ein Kissen waren hübsch gefaltet und einen Korb, der herrlich duftete, hatten sie auch mitgebracht. Er schaute neugierig hinein und freute sich über die vielen Leckereien, die darin verstaut waren. Obenauf lag eine Karte auf der Stand:
"Guten Appetit wünscht die prima Köchin!"
PS: Meine Tochter Anna hat mir von Ihnen erzählt. Dies ist ein Weihnachtsgeschenk von ihr. Frohe Weihnachten".
Volker drückte den Brief ganz fest an sich, Tränen liefen über seine Wangen als er sagte: "Frohe Weihnachten, kleine Anna!"