John blättert wahl- und ziellos in einer Zeitschrift. Luc ist heute nicht so gesprächig. Ständig blickt er aus dem Fenster und kratzt sich nervös an seiner Schläfe. Da kommt es gerade recht, dass im "Loop" einige Zeitschriften und Tageszeitungen ausliegen.
"Die neusten Ostertrends ...", murmelt John so vor sich hin.
Luc sieht in amüsiert an.
"Ostern. Ja, und dann ist schon wieder Weihnachten. Dann kommt wieder Ostern und alles geht von vorne los." Luc wendet seinen Blick wieder zum Fenster. John legt die Zeitschrift ausgebreitet vor ihm auf den Tisch. Man sieht viele bunte Fotos. Osterhase, normale Stallhasen und ähnliche Sachen sind dort zu sehen.
"Lies doch. Der Ostermann. Hier, eine nette Maske mit Löffelohren." John deutet auf eine Gestalt die in Pelz gehüllt ist und eine Hasenlarve trägt. Luc macht sich nicht einmal die Mühe, das Bild zu betrachten.
"Was soll mir Ostern?" zischt er.
"Na Ostern, das ist doch das Fest der Auferstehung Christi."
"Und was ist dann Weihnachten?", raunt ihn Luc an. Er hat nun den Blick auf John geheftet.
Susi, die Kellnerin, tritt an den Tisch.
"Ach wie nett, diese Verkleidung."
Sie meint wohl den verkleideten Osterhasen. Luc runzelt nur die Stirn und blickt dann selbst auf die Zeitschrift.
"Der Ostermann scheint aber ein paar Pfunde zu viel auf den Rippen zu haben."
"Der ist doch so niedlich."
Susi scheint den Sinn für die Realität verloren zu haben. John lächelt ihr zu und bestellt dann eine Tasse Kaffee.
"Mir ist jetzt jeglicher Appetit vergangen", meint Luc während er verächtlich auf den Ostermann blickt. "Ich wollte eigentlich eure Eierspezialität essen, aber dieses Bild hat mir jetzt schwer auf den Magen geschlagen."
"Och", meint Susi nur indem sie sich wieder davon macht. John lächelt nur.
"Ostern ist doch etwas schönes Luc. Denk an all die Kinder." Luc winkt energisch ab.
"Brauchen die Kinder einen Ostermann? Ist der Weihnachtsmann nicht genug?"
"Na, was soll die Nörgelei? Warum vergönnst Du den Kleinen nicht ihren Spaß? Du musst ja nicht dabei sein. Oder Du musst ja nicht in dieses Kostüm schlüpfen." Luc rümpft die Nase.
"Da wird Ostern nicht nur gefeiert, sondern inszeniert. Bei Weihnachten ist es genau so. Diese hysterische Art, wuchert wie ein Krebsgeschwür." John klappt die Zeitschrift zu und will sie in die Ecke schmeißen. Da hält Susi seinen Arm fest.
"Nicht doch. Du kannst doch die Zeitschriften nicht so flegelhaft behandeln. Auch wenn Luc etwas gegen den Ostermann hat oder gegen Spaß im Allgemeinen, deswegen muss man ja nicht die Zeitschrift darunter leiden lassen." Sie stellt eine Tasse Kaffee vor John und trägt die Zeitschrift zum Zeitschriftentisch. Das heißt, sie wollte die Zeitschrift schon auf den Tisch legen, als ihr eine Dame die Zeitschrift entreißt, wollte ich fast sagen.
"Wir machen eine Osterparty hier im Loop. Vielleicht kommt dann auch ein Ostermann und beschenkt die Gäste mit bunten Eiern. Nur eine Idee. Ist mir gerade so gekommen", bemerkt Susi, als sie wieder bei John und Luc am Tisch ist.
"Du würdest Dich doch gut als Ostermann eignen", sie zerrt Luc an der Schulter. "Dann könntest Du Deine Phobie überwinden. Das wäre sozusagen eine Konfrontationstherapie." Susi lacht und schreitet wieder zum Tresen.
Luc blickt nicht sehr erheitert. John fühlt sich nun auch etwas unbehaglich.
"Wir müssen ja Ostern nicht ins Loop gehen."
"Und Weihnachten?", fragt er provokativ zurück.
"Was hast Du nun gegen Weihnachten? Du musst Dir wegen Weihnachten keine Sorgen machen. Kommt Zeit kommt Rat."
"Der Weihnachtsmann kommt dann!", Luc's Stimme ist etwas überdreht. Er hat sich da wohl richtig in etwas hineingebissen.
"Der Weihnachtsmann bringt dann bunte Geschenke. Nein bunt sind die Eier des Ostermannes. Die Geschenke des Weihnachtsmannes, sind nicht bunt oder doch. Was meinst Du?" John hat es die Sprache verschlagen. Gegen diesen Sarkasmus kommt er nicht an.
"Wir müssen auch Weihnachten nicht ins Loop gegen. Aber eigentlich gefällt es Dir hier doch recht gut. Die Bedienungen hier sind auch die hübschesten in der Stadt und darauf kommt es Dir doch immer besonders an?" Luc schmollt etwas.
"Weihnachten ist doch das Fest der Freude. Ein Kind wurde uns geboren. Einen Menschensohn hat uns Gott gesandt." Luc unterbricht John, da er insgeheim wohl fürchtet, John habe das Café mit seiner Arbeitsstätte verwechselt.
"Diese Predigt kannst Du Dir für Weihnachten aufheben."
"Ich will jetzt gar nicht predigen. Ich verstehe nur Deine Gereiztheit nicht. Ich habe übrigens für den Ostersonntag ... nein für den Weihnachtsabend. Natürlich auch für den Ostersonntag ..."
"Was hast Du für den Ostersonntag? Wirst Du Dich etwa auch verkleiden und Deinen Freund trauernd allein zu Hause sitzen lassen?" Luc wettert nun kräftig drauf los.
"Ich lade Dich auf einen Kaffee ein, Luc." Er winkt Susi und ordert noch auf ihrem halben Weg zu ihnen ein ganzes Kännchen Kaffee.
"Willst Du nun, dass ich mit dem Kaffeetrinken bis Ostern beschäftigt bin, dass ich den Ostermann nicht verpasse?"
"Bis Weihnachten, dass Du den Weihnachtsmann nicht verpasst." John lacht schallend auf. Er klopft sich mit der flachen Hand auf die Brust.
"Ich finde das alles eigentlich gar nicht so lustig. Bedenke doch. Da wird gefeiert bis der Arzt kommt. Kostüme werden geschneidert. Welche im nächsten Jahr schon nicht mehr modern sind. Und was sagt die Umwelt dazu?"
"Die Umwelt ist natürlich ein Problem. Die ganzen Autos auf den Straßen. Die verpesten die Luft ja dermaßen. Und die Industrie hat den abfahrenden Zug verpennt."
"Was hat sie?", Luc fährt etwas in die Höhe.
"Ja der Zug eben. Ach Dir ist diese Floskel nicht geläufig. Nichtsdestotrotz, die Kinder sollen auch einmal fröhlich sein. Der Weihnachtsmann hat doch eh jedes Jahr seinen gleichen Mantel."
"Der Bart ist auch der gleiche", fährt ihm Luc schroff an.
John blickt verdutzt. Er tippt leicht an seine Tasse und atmet den Dampf des Kaffee's mit geschlossenen Augen ein. In dieser Genießerhaltung fährt er dann fort zu sprechen.
"Ich würde die Umweltverschmutzung nicht ans Bein des Weihnachtsmannes heften. Da liegst Du ganz auf dem falschen Dampfer."
"Dampf ist ja ein gutes Stichwort, wenn es um Klimazahlen geht."
"Ja so ist es. Aber der Weihnachtsmann lässt ja gar nicht viel Dampf ab. Der ist doch so lieb und niedlich, wie jetzt auch der Ostermann." John hat seine Äuglein wieder einen Spalt weit geöffnet. Luc gießt sich nun etwas Kaffee in seine Tasse.
"Danke für den Kaffe, John. Aber dieser kann mich nun auch nicht über Ostern oder Weihnachten hinwegtrösten."
"Ach", meint John. "Woran liegt es denn? Doch nicht an der lumpigen Verkleidung des Weihnachtsmannes. Das wäre doch albern. Ein gestandener Mann fürchtet sich vor dem Weihnachtsmann?" John ist nun dazu übergegangen Luc zu necken und ihn etwas aufzuziehen.
"Wahrscheinlich weißt Du es noch nicht. Das ist auch die Tatsache. Das war der entscheidende Moment, dass ich mich der Philosophie angenähert habe. Sie hat mir dann eine Art Heimat gegeben. Eine Art Ersatzheimat oder auch Pseudoheimat." Die Neugier ist nun auf dem Gesicht John's deutlich zu lesen.
"Natürlich weiß ich es noch nicht. Es gibt viele Gründe, einen Beruf zu wählen. Der finanzielle Aspekt ist oft der schlagkräftigste."
"Ja wenn es nur das liebe Geld wäre. Aber warum sagen wir liebes Geld. Ich finde das Geld ist link und verräterisch."
"Hat es Dich denn etwa schon verraten?" Luc's Gesichtszüge heitern sich nun auch etwas auf. Die Verbissenheit die noch vor einem Augenblick auf seinen Mundwinkeln lag, scheint verflogen zu sein.
"Verraten. Hat mich das Geld verraten? Ich denke, wenn ich einen Beruf nur des Geldes wegen machen würde, dann wäre das doch ein Verrat. Ich hätte mich dann selbst und meine Umwelt im Gleichschritt verraten." John hebt seine Tasse an seine Lippen. Er nippt vorsichtig. Bläst dann etwas in den Kaffee hinein, da er ihm noch zu heiß ist.
"Moralisch ist das Geld natürlich nicht. Aber warum hast Du Dich nun an Ostern ... Ach sorry, an Weihnachten dazu entschlossen Dein Leben der Philosophie zu widmen?"
"Ich war irgendeinmal verliebt."
John lacht. Da Luc ernst bleibt, stocken seine Lachmuskeln in ihrer Bewegung. Er schlägt seine Wimpern nieder und entschuldigt sich dann gebührend.
"Tut mir leid, Kumpel. Ich wusste gar nicht, dass Du an Frauen Gefallen findest. Ich habe Dich doch nie mit weiblichen Wesen ausgehen sehen. Du verkriechst Dich doch nur hinter Deinen Büchern. Du sperrst Dich oft wochenlang in Dein Arbeitszimmer ein. Bei mir ist das ja anders. Als Seelsorger lebe ich unter dem Zölibat. Bei Dir scheint es so ähnlich zu sein. Auch wenn ich nicht verstehe, warum ein Philosoph keinen Sex haben dürfe. Dann hättest Du ja auch gleich Pfarrer werden können." Luc schweigt. Nach einigem Zögern spricht er leise und bedacht. John muss näher an den Tisch heranrücken um alle Worte aufschnappen zu können.
"Die Liebe. Ich habe sie auch gespürt. Ich habe an ihr gehangen. Vielleicht fast so stark wie jetzt an der Philosophie. Vielleicht habe ich sie sogar noch intensiver und leidenschaftlicher verehrt." Luc macht eine Pause. Dann beginnt er seine Worte deutlicher auszusprechen.
Vorhin hat er ja nur so in seinen Bart hineingenuschelt. Einen Bart hat er ja gar nicht. Vielleicht mag er den Weihnachtsmann ja nur nicht, da er auf dessen Bart eifersüchtig ist?
"Die Liebe, ein so großes Wort. Jeder spricht von der Liebe, aber wenn sich zwei Menschen über die Liebe verständigen sollen, dann sprechen sie aneinander vorbei. Es scheint als ob man die Liebe nicht definieren könnte."
"So ähnlich sehe ich es auch. Deswegen hat ja auch Gott seinen Sohn zu uns gesandt. Er hat ihn uns geschenkt. Und dieses Geschenk feiern wir an Weihnachten. Deswegen kommt der Weihnachtsmann zu den Kindern, um an dieses Wunder zu erinnern; um diese Liebe erstehen zu lassen." Luc lässt seinen Blick wieder zum Fenster wandern. Regen hat eingesetzt. Die Leute auf der Straße haben ihre Schirme aufgespannt. Paare kuscheln sich darunter zusammen. Luc treten einige Tränen aus den Augen.
"Wie soll man es beschreiben?", er stottert etwas. Eine Kleinigkeit, die John nie an ihm bemerkt hat. In all den Jahren, die sie sich nun schon kennen. Sie waren schon zusammen an der Uni. Hörten gemeinsam einige Vorlesungen. Damals waren sie oft auf Parties unterwegs, auch Weihnachtsparties waren darunter, erinnert sich John nun verschwommen.
"Weihnachten ist schon ein Symbol der Liebe, wie es ja auch Ostern ist.
Aber für mich hat dieses Symbol seine Glaubwürdigkeit verloren." Tränen rinnen ihm über die Wangen. Der Philosoph, der zahlreiche Werke verfasst hat, an der Uni gelehrt hat, bis er wegen disziplinarischer Vergehen gegangen wurde; er der fast schizoid anmutende Charakter offenbart nun sein empfindendes Herz.
"Das Symbol konnte man ja noch verkraften", fährt er schluchzend fort.
"Aber diese Dreistheit aus diesem Fest eine Karnevalsveranstaltung zu machen. Wenn man sich freut, wenn man sich liebt, dann muss man sich doch nicht verkleiden?" So hatte es John auch noch nicht gesehen. Aber warum hat Luc all die Jahre geschwiegen? Warum hat er sich in seine Bücher verbohrt? Warum hat er ein Buch nach dem anderen geschrieben? Auch John hat alle seine Werke gelesen.
Hinweise auf Luc's Verbitterung in Bezug auf die christlichen Feste hat er darin nicht finden können. Er will nun behutsam nachfragen. Er hat ungefähr kapiert, worum es Luc ging, weiß aber noch nicht, was wirklich geschehen ist.
Was hat sich an einem Weihnachtsfest vor gut einem halben Jahrhundert ereignet, denn so lange ist es her, dass die beiden Freunde gemeinsam nicht mehr auf Parties gesehen wurden, dass sich Luc keine Schokoladeneier zu Ostern und keine Weihnachtsmänner von Milka zu Weihnacht mehr schenken ließ?
Luc zieht ein Tempo hervor und wischt sich die Tränen weg. Doch die ganze Szene ist damit nicht beendet. Weitere Tränenkügelchen kullern ihm herab.
Beschämt verdeckt er sein Gesicht hinter seinen Handflächen. Gebrechlich rafft er sich auf und verschwindet schnell in der Toilette.