Anfang der siebziger Jahre unterlag in meiner Familie der Tagesablauf einem bestimmten Arbeitsrhythmus. So war es auch in der Weihnachtszeit. Kurz vor dem ersten Advent wurde ein Schwein geschlachtet. In der Woche darauf wurden die Fenster geputzt und die Gardinen gewaschen. Eine Woche später wurde die gesamte Wäsche gewaschen, gebügelt oder gemangelt. Danach ging es an das ganz große Reinemachen. Alles wurde ausgefegt, ausgeklopft oder abgeschrubbt. Sogar die Ablagefächer in den Fliegenschränken im Keller wurden gewaschen und mit frischem buntem Papier ausgelegt. Da blieb nichts so, wie es war.
Die ganze Prozedur lief nach einem genauen Zeitplan ab. Kurz vor den Festtagen wurden Kekse gebacken. Unmengen Teig wurden durch den Wolf gedreht und Butterplätzchen ausgestochen. Große Klöben (süßer Hefeteig mit Äpfeln, Nüssen und Gewürzen in Form von Stollen) verließen den Backofen. Das ganze Haus duftete nach Gebäck und glänzte mit Ausnahme der Waschküche, wo noch auf dem alten Kohleherd das letzte Essen gekocht wurde. Über der neuen Küche mit dem Elektroherd lag jetzt ein Tabu. Hier durfte nicht mehr gekocht werden, weil sie schon sauber und heimelig auf das Fest wartete.
Zwei Tage vor Heiligabend holten Opa und Vater den Tannenbaum aus dem Wald, den sie Jahr für Jahr vom Bauern bekamen. Im Sommer half meine Mutter mit auf den Feldern des Bauern. Sie hackte Rüben, pflückte Erbsen, band Stroh zu Stiegen, las Kartoffeln mit auf und vieles mehr. Für ihre Arbeit bekam sie kein Geld. Sie wurde in Naturalien bezahlt. So brachte der Bauer zum Beispiel in der Vorweihnachtszeit je einen riesigen Sack Mehl und Zucker. Dazu gab es einen großen goldfarbenen Eimer Rübensaft. Den konnte meine Mutter auch gut gebrauchen, denn damit backte sie Honigkuchen. Echter Bienenhonig war zu teuer. Der schon erwähnte Tannenbaum fiel auch unter die Naturalienbezahlung.
Einen Tag vor Heiligabend fuhr mein Opa immer in die nächste kleine Stadt, um die letzten Geschenke zu besorgen. Dazu zog er den dicken grünen Lodenmantel über. Den hatte er so lange ich denken konnte, und den trug er auch noch bis zu seinem Tod mit 87 Jahren. Der Mantel war von einer Qualität, die man heute nicht mehr findet. Er wurde allerdings auch gehegt und gepflegt und sah stets so aus, als wäre er nagelneu. In jenem Jahr 1974 stülpte er sich die ebenfalls lodengrüne Prinz-Heinrich-Mütze über das kurze weiße Haar und marschierte zur Bushaltestelle.
Zwei Stunden später kam die Freundin meiner Mutter, Tante Anni, vorbei. Sie wollte fragen, ob der Opa mit ihr in die Stadt fahren wollte.
"Och", sagte Oma. "Das ist nett von dir mein Mädchen. Aber der ist doch schon heute Morgen mit dem Bus gefahren." "Nein, nein", sagte Tante Anni. "Er hat doch den Bus verpasst. Das hat er mir doch selbst erzählt. Er war da schon auf dem Weg wieder nach Hause." Sprachloses Staunen. Keiner hatte den Opa zu Hause wieder gesehen. Darum wurde nun hektisch alles nach ihm abgesucht. In der Schlafkammer war er nicht, in der Stube auch nicht und schon gar nicht im Stall. Sein guter Lodenmantel und die Mütze waren auch verschwunden. Sollte er etwa mit jemand anderem mitgefahren sein? Alle Bekannten und Verwandten, die ein Auto besaßen, wurden angerufen. Keiner hatte den Opa gesehen. Sollte der etwa zu Fuß die vielen Kilometer gelaufen sein? Er war doch schon kurz vor seinem 80. Geburtstag. Gespannt warteten wir darauf, dass der Bus mittags um kurz vor 14.00 Uhr von der Stadt zurückkam. Der Bus kam. Der Opa saß aber nicht drin.
Jetzt war die Aufregung groß. Eine Suchexpedition wurde zusammengestellt. Inzwischen war es kurz nach 15.00 Uhr. Tante Anni fuhr von unserem Hof herunter auf die Hauptstraße.
Zwischen zwei Nachbarhäusern war ein sehr schmaler matschiger Fußweg, der den großspurigen Namen "Gasse" trug, obwohl nur eine Person dort entlang gehen konnte ohne rechts und links anzustoßen. Aus dieser Gasse schoss etwas Grünes in riesigem Bogen vor Tante Annis Auto. Zum Glück kam sie sofort zum Stehen. Das grüne Etwas, das auf der Motorhaube ihres Mercedes lag, war mein Opa. Und unter den Rädern des Mercedes lag Mutters Fahrrad.
Opa hatte seinen Arbeitsplan im Kopf gehabt. Einen Tag später konnte und wollte er nicht mehr in der Stadt seine Besorgungen machen. Da musste er doch die Straße fegen und die Wege im Garten. Und der Weg um die Miste und die Scheuenzufahrt mussten gesäubert werden. Deshalb war er nach zwanzig Jahren erstmals wieder mit dem Fahrrad unterwegs gewesen. Der Opa war sehr stolz auf sich, wie er seinen Tag mit den Einkäufen doch noch in den Griff bekommen hatte.
Da er am Morgen von der Fahrt in die Stadt recht durchgefroren war, hatte er sich in der Klause, der Gastwirtschaft am Busparkplatz zwei Stunden lang aufgewärmt, Hühnerbrühe gegessen und Kaffee getrunken. Erst dann hatte er eingekauft. Bevor er wieder nach Hause radelte, hatte er in der Klause eine zweite Hühnerbrühe zu sich genommen. Deshalb war er erst so spät zurückgekommen.
Wir waren an diesem Weihnachten sehr froh, dass wir unseren Opa wieder hatten. Besonders nachdem uns meine Tante, die am zweiten Weihnachtstag zu Besuch kam, eine Geschichte erzählte: "Stellt euch vor, da hat doch zwei Tage vor Heiligabend so ein verrückter Alter in grünen Klamotten die Stadt unsicher gemacht. Dieser Olle fährt mitten über die große Kreuzung schräg rüber. Aber wenn ihr glaubt, dass der auf Ampel oder Autos geachtet hätte, irrt ihr euch gewaltig. Jedenfalls quietschten die Bremen, großes Gehupe und was macht der Alte? Der kommt gerade noch mit seinem Fahrrad vor einem Auto zum Stehen. Dann zeigt er dem Autofahrer einen Vogel und schreit, diese doofen Autofahrer sollen gefälligst besser aufpassen. Alsdann rückt der Olle die grüne Prinz-Heinrich-Mütze zurecht und fährt munter in Schlangenlinien weiter." Mutter fixierte unseren Opa nur mit den Augen. Sie hat meiner Tante, die unseren Opa nicht erkannt hatte, nichts verraten.
Aber von diesem Tag an war ihr Fahrrad im Stall angekettet und sie hat nicht erzählt, wo der Schlüssel war.