Novembergrau schob sich durch unsere Straße, zäh und klebrig wie die graue Masse, die ich heute in einem vergessenen Marmeladenglas ganz hinten im Kühlschrank gefunden hatte. Beim Blick aus dem Fenster hatte mich urplötzlich ein Heißhunger nach Erdbeermarmelade ergriffen, die ich sonst nie aß.
Doch beim ersten unwilligen Schritt aus der Tür stellte ich fest, dass sich hinter dem Grauschleier ein Geschenk verbarg. Jedes kleine Ding war von Raureif bedeckt und umgestaltet. Die Autos machte er nicht schöner, aber am Straßenrand hatte niemand die Disteln und alten Gräser abgeschnitten, und sie waren zu seltsam gekrümmten Gestalten erstarrt. Von einem silbernen Pelz aus Reif umhüllt wirkten sie wie in einem lautlosen und ewigen Tanz gefangen, hingezaubert von einer Frostnacht, der es gleich war, ob jemand in dieser eiligen Stadt das zarte Wunder bemerkte.
Kurz darauf kniete ich auf den Steinen und zielte mit der Kamera auf die Wesen, ehe der erstbeste Hund an ihnen das Bein hob und sie in die Flucht schlug.
"Was soll das denn werden? Du wirst dich erkälten, Mädchen!", hörte ich Gennaros Stimme hinter mir.
Ich glaube, er nennt alle Frauen unter sechzig Mädchen. Aber ich mag ihn trotzdem. Schon wegen der Behutsamkeit, mit der er alles in seinem über die Zeit geretteten Tante-Emma-Laden berührt, als sei jeder Apfel etwas Einzigartiges.
"Weihnachtskarten", antwortete ich, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, denn bei diesem Licht war es nicht einfach, die richtige Einstellung zu finden.
An der richtigen Einstellung schien es allerdings auch Gennaro zu mangeln. "Bah! Weihnachtskarten!", sagte er verächtlich. "Weihnachtskarten sind furchtbar."
Nun ließ ich doch die Kamera sinken und starrte ihn entgeistert an. "Sie mögen keine Weihnachtskarten?"
Für mich war das undenkbar. Bei uns zuhause waren sie ins Haus geflattert wie freundliche Schmetterlinge aus aller Welt. Mein Vater bekam sie aus Japan auf feinem Büttenpapier, aus Australien mit exotischen Vögeln darauf, aus Amerika mit ganzen Geschichten in Schnörkelschrift. Wir hängten sie überall im Haus auf. Jeder fand eine andere am schönsten und erklärte auch warum. Sie brachten eine Fülle kleiner Welten und schöner Träume in die kalten Tage, und es störte uns nicht, dass manche nur Werbezwecken dienten. Wichtig war, was man daraus machen konnte.
"Nö", sagte Gennaro, der in dritter Generation Deutscher war und von seinen südländischen Vorfahren lediglich den Namen und die tiefdunklen Augen übrigbehalten hatte, die einem an seiner langen, dürren Gestalt mit dem weißen Haarkranz als Erstes begegneten. "Ist doch Blödsinn. Das ganze Jahr denken die Leute nicht aneinander. Dann schmieren sie irgendwelche Floskeln aufs Papier, verschwenden eine Briefmarke und ihre Zeit und die des Empfängers, der ihnen auch noch antworten muss, und alles nur, weil man das angeblich so macht."
Er holte zwei Kiwis aus seiner Tasche und steckte sie mir in die Hand. Er benahm sich immer, als sei er mein Großvater, dabei kannten wir uns erst seit ich vor zwei Jahren ins Nebenhaus gezogen war und bei ihm einkaufte. "Vitamine, Mädchen. Bei dem Wetter brauchst du Vitamine. Und nu lass den Unfug, du kommst zu spät zur Arbeit."
Brummelnd ging er zurück in seinen Laden, wo drei Kunden schon geduldig auf ihn warteten.
Er hatte Recht. Ich rannte zum Bus, doch Gennaros Abneigung gegen Weihnachtskarten nagte den ganzen Tag an mir. Für mich kam das einem Skandal gleich. Es passte mir nicht. Auch ich kann stur sein. Mindestens so stur wie Gennaro.
Am nächsten Tag fischte ich unauffällig in seinem Papierkorb und fand seine Privatadresse heraus. Dann kaufte ich Weihnachtskarten, die schönsten und ungewöhnlichsten, die ich finden konnte. Ich malte Weihnachtskarten. Ich druckte Weihnachtskarten. Ich beklebte Weihnachtskarten.
Es waren noch dreiundvierzig Tage bis Weihnachten, und in dieser Zeit bekam Gennaro zweiundfünfzig Weihnachtskarten. Sie flatterten durch seinen Briefschlitz wie freundliche Schmetterlinge, jeden Tag eine, manchmal auch zwei, und sie landeten in seinem Leben, ob er wollte oder nicht.