Meine Tante und mein Onkel hatten die gesamte Familie an Weihnachten eingeladen. Platz genug war vorhanden. Vor zehn Jahren waren sie in das große Einfamilienhaus mit den Erkerfenstern und der großzügigen Terrasse gezogen. "Angeber!", hatte meine Mutter sie geschimpft und jede Einladung von ihnen abgelehnt. Tante Agnes war die jüngere Schwester meiner Mutter und seit der Kindheit das schwarze Schaf der Familie. Jedenfalls laut meiner Mutter. Tante Agnes Aussagen zufolge verhielt es sich genau umgekehrt.
Die Einladung zum besagten Weihnachtsfest kam per Einschreiben. "Angeber!", rief meine Mutter in den Telefonhörer, als ich anrief, um ganz nebenbei zu fragen, ob sie auch eine Einladung erhalten habe.
"Als wenn ich Weihnachten mit denen feiern wollte!", schrie sie.
"Aber alle kommen. Die ganze Familie. Wir haben noch nie mit der ganzen Familie gefeiert", versuchte ich meine Mutter zu beschwichtigen. "Das wird sicher sehr schön. Und du kannst Tante Agnes und den anderen zeigen, wie viel du in den letzten Wochen abgenommen hast."
Meine Mutter biss tatsächlich an. Natürlich ließ sie sich keine Gelegenheit entgehen der Welt zu zeigen, wie gut sie mit ihren fünfundfünfzig Jahren aussah. Gertenschlank, Kleidergröße 36, hellbraun gefärbte Haare mit blonden Strähnchen und die neueste Kollektion von Gucci im Kleiderschrank. Natürlich alles preisgünstige Kopien, gefertigt in China, aber die meisten Leute konnten Gucci nicht einmal buchstabieren, argumentierte meine Mutter.
So kam es im Haus der Kleins zu einem Weihnachtsfamilientreffen. Am Heiligabend traf sich die ganze Sippschaft (Ausdruck meiner Mutter) im Rotkehlchenweg eins. Tante Agnes hatte ihre blondgefärbten Haare zu einem Dutt frisiert, was ihr das strenge Aussehen einer Schuldirektorin verlieh. Mein Onkel Robert hatte bereits zu viel am Punsch genippt; seine Wangen und die Nase waren rosig und das Toupet saß schief auf seinem Kopf. Er lachte laut und prostete jedem Gast mehrmals zu.
Meine zahlreichen Cousins und Cousinen hatten sich in die Küche zurückgezogen und rauchten und naschten von der Eierlikörtorte. Das Wohnzimmer war festlich geschmückt. Vor dem Kamin stand ein prächtig dekorierter Weihnachtsbaum. Rote und goldene Christbaumkugeln glänzten mit dem Lametta um die Wette. Auf dem Sims glitzerten kleine Weihnachtsfiguren: Elfen, ein Rentier, zwei Weihnachtsmänner. Meine Mutter saß mit meiner Schwester Marla auf der braunen Ledercouch; aus beiden Gesichtern sprang einem die schlechte Laune förmlich entgegen. Meine Mutter war genervt von Onkel Robert, der lauthals hickste und sein Glas im Wohnzimmer herumschwang; meine Schwester war wiederum genervt von meiner Mutter, die ununterbrochen laut vor sich hin zeterte. "Was findet dieses Weib bloß an dem. Das habe ich mich schon damals gefragt. Weißt du, dass er auf der Hochzeit die Torte ruiniert hat, weil er ..."
"Das hast du mir schon hundert Mal erzählt, Mutti", entgegnete Marla und warf mir einen "Bitte-hilf-mir-Blick" zu.
"Etwas Punsch, Mutti?", fragte ich und hielt meiner Mutter bereits ein Glas unter die Nase. Angewidert verzog meine Mutter den Mund und wich mit dem gesamten Oberkörper zurück. Man hätte meinen können, ich hätte ihr einen Hundehaufen andrehen wollen.
"Die hat da bestimmt wieder Sahne reingetan."
"Nein, hat sie nicht. Ich habe extra vorhin gefragt", log ich.
Nur zögerlich nahm meine Mutter das Glas, schnupperte vorsichtig daran und trank dann einen kräftigen Schluck.
Gegen Mittag kam Onkel Fred und somit war die Familie vollzählig. Onkel Fred war gerade frisch aus dem Gefängnis entlassen. Fast fünf Jahre hatte er wegen Betruges abgegessen. Er war Mitte fünfzig, hatte einen weißen Haarkranz und trug einen Bart.
"Onkel Fred!", schrie meine Schwester und sprang so abrupt von der Couch auf, dass meine Mutter halb zur Seite kippte.
"Unfassbar, dass der auch hier ist", flüsterte sie.
"Kannst du nicht mal ein bisschen toleranter sein? Er hat doch niemanden mehr, seit Tante Gabi mit diesem Klempner durchgebrannt ist."
"Sie hätte sich nicht an einen Klempner wenden müssen, wenn er nicht eingesessen hätte."
Tante Agnes bat um Ruhe und klopfte mit dem Löffel gegen ihr Punschglas. Augenblicklich verstummten die Gespräche.
"Meine Enkel haben ein kleines Weihnachtsstück einstudiert und so wollen wir uns die Zeit bis zur Bescherung ein wenig versüßen. Ich möchte alle in den Wintergarten bitten, damit hier alles für die Aufführung vorbereitet werden kann."
Nur murrend ließen sich die Leute in den Wintergarten lotsen. Er war wesentlich kleiner als das Wohnzimmer und so standen wir alle so dicht gedrängt zusammen, dass es unmöglich war, über einzelne Personen herzuziehen. Meine Mutter und ich setzten uns auf eine kleine Rattancouch ans Fenster. Meine Schwester und Tante Fred nahmen auf der Heizung Platz, letzterer gab seine neuesten Witze zum Besten. Ich bemerkte, dass Marla sich sichtlich unwohl fühlte, als er nach Blondinenwitzen Gefängniswitze erzählte.
"Guck dir das Pack an", flüsterte meine Mutter und schüttelte in einer Tour den Kopf, so dass ihre Locken sich allmählich aus der aufwendigen Hochsteckfrisur lösten.
Ich seufzte, holte uns noch einen Punsch und wartete dann auf mit den anderen auf die Aufführung. Die Kinder meiner Cousine Nadja hießen Sonja, Greta und Dennis. Reizende Kinder, wenn man eine Vorliebe für Fäkalsprache und Puppenköpfungen hatte.
Ich bewunderte Tante Agnes für ihren Mut, die Bälger ein Weihnachtsstück aufführen zu lassen. Wirklich, ich hätte viel zu viel Angst um mein Mobiliar gehabt.
Vor ein paar Tagen hatten sie ihrer Mutter Kaminholz besorgt. Und zwar von den Küchenstühlen. Sie hatten einfach die Beine abgesägt.
Als wir zurück ins Wohnzimmer gebeten wurden, waren die Möbel an die Seite gerückt.
In der Mitte des Raumes stand eine Krippe, in der eine Babypuppe lag.
Auf dem Teppich war überall Stroh verteilt.
Vor dem Fenster waren zwei Stuhlreihen aufgestellt worden; meine Mutter und ich setzen uns in die erste Reihe. Neben mir nahmen Marla und meine Cousine Nadja Platz, die stirnrunzelnd in die Menge blickte.
"Suchst du was?", fragte ich sie.
Sie schüttelte gedankenverloren den Kopf. "Nein. Ich bin nur etwas besorgt."
"Besorgt?"
Sie lächelte gequält und strich sich durch die langen roten Haare. "Naja, Greta und Dennis hatten heute Morgen einen ziemlich dicken Streit. Ich weiß nicht, wie sich das auf das Stück auswirken wird."
"Ach, das sind Kinder. Dennis wird bald sieben, oder?"
Nadja nickte. "Und Greta ist fünf, richtig?"
"Ja, und Sonja neun. Sie sind wirklich lieb. Bloß manchmal ..." Sie sprach nicht weiter und blickte zum Flur.
Tante Agnes kam zur Tür herein, gefolgt von drei kleinen Kindern. Sonja hatte lange blonde Haare und trug wie ihre kleine Schwester ein blaues Samtkleid. Dennis hatte sich als Weihnachtsmann verkleidet. Er trug eine rote Zipfelmütze, einen roten Bademantel über rote Jeanshosen und schwarze Gummistiefel. Als Bart hatte Tante Agnes ihm Wattebüschel ins Gesicht geklebt.
"Ihr könnt anfangen", sagte Tante Agnes freudig und huschte zu dem einzig noch freien Stuhl neben Nadja.
Die Kinder nahmen sofort ihre Plätze ein. Die kleine Greta setze sich auf den Boden neben die Kinderkrippe und Sonja stellte sich an den Weihnachtsbaum und tat so, als ob sie ihn schmückte.
Dennis räusperte sich, kam einen Schritt auf die beiden zu und sagte: "Ho Ho Ho!"
Marla und ein paar andere kicherten.
Sonja drehte sich zu Dennis um und riss den Mund weit auf. "Wer sind Sie? Was machen Sie bei uns im Haus?"
"Ho Ho Ho", wiederholte Dennis. "Ich bin der Weihnachtsmann."
"Wo sind denn deine Geschenke?", fragte Greta und blickte ihn mit ihren großen blauen Augen an.
"Psst", zischte Sonja und machte eine ungeduldige Handbewegung. "Das kommt doch erst später."
Greta hielt sich die Hand vor den Mund und kicherte. "Wart Ihr denn auch artig?", fragte Dennis mit brummiger, tiefer Stimme.
Sonja nickte. "Aber natürlich."
Dennis drehte sich zu Greta und bückte sich, so dass er in die Krippe gucken konnte. "Und wer ist das da?"
"Das ist meine Tochter", sagte Greta und grinste über das ganze Gesicht.
"Wie kann sie denn artig gewesen sein, wenn sie ein uneheliches Kind hat", flüstere mir meine Mutter ins Ohr.
"Vielleicht ist der Mann ja draußen und hackt Holz", gab ich zurück.
"Ach was", zischte sie.
Ich musste kichern und hielt mir wie Greta zuvor die Hand vor den Mund.
"Und wie heißt sie?", fragte der Weihnachtsmann.
"Elsa. Elsie. Elina."
"Wie?", fragte Dennis, der diesem Mal vergessen hatte, die Stimme zu verstellen.
"Hab ich vergessen", sagte Greta kleinlaut und senkte den Kopf.
"Sie heißt Elsa", erklärte Sonja und kniete sich zu ihrer Schwester auf den mit Stroh bedeckten Boden. "Sie ist sehr krank. Und wir können keine Medikamente kaufen, weil wir kein Geld haben."
"Ja, genau", bekräftigte Greta und nahm die Puppe aus der Krippe.
Der Kopf knickte zur Seite, brach ab und rollte über den Boden, bis vor meine Füße. Hinter mir brach Gelächter aus. Auch Marla und meine Mutter kicherten.
"Sehr, sehr krank", meinte Sonja und blickte auf den Puppenkopf, vermutlich verunsichert darüber, ob sie ihn holen sollte oder nicht.
"Die Kopflosenkrankheit", sagte Greta grinsend.
"Weil Ihr sehr artig wart, habt Ihr einen Wunsch frei", sagte Dennis, der sich von dem Lachen und Gekicher nicht irritieren ließ.
"Ich wünsche mir einen Reitstall für meine Barbie", sprudelte es aus Greta heraus.
"Wir wünschen uns, dass Elsa wieder gesund wird", verbesserte Sonja und warf ihrer Schwester einen wütenden Blick zu.
"Aber ihr Kopf ist doch ab", sagte Dennis, wieder in seiner normalen Kinderstimme.
"Du bist der Weihnachtsmann, du kannst alle Wünsche erfüllen", entgegnete Sonja.
Dennis schlenderte zum Puppenkopf, hob ihn auf und legte ihn zurück in die Krippe.
Dann breitete er die Arme aus und sagte "Hokus Pokus, gesund sei Elsie. Edda."
"Elsa!", rief Sonja.
Greta begann nun laut zu kichern und auch Sonja hatte Mühe ernst zu bleiben. "So ging der Weihnachtsmann ins nächste Haus und half anderen Familien. Die kleine Elsie wuchs zu einem glücklichen Kind heran. Ende."
"Elsa", korrigierten Greta und Dennis wie aus einem Mund.