Ein starker Wind wehte durch den Wald und brachte dadurch die Zweige der Bäume zum Erzittern, so dass sie den auf sich liegenden Schnee wieder auf die Erde fallen ließen. Immer weiter und weiter bahnte sich der Wind seinen Weg durch den dunklen Wald über die tiefen Täler und über die höchsten Berge zog er hinweg. Sein Ziel lag weit, weit im Norden. Dort wollte er hin. Dort musste er hin. An unbeleuchteten Häusern vorbei. Durch leerstehende Fabrikhallen und an vielen Menschen vorbei, immer weiter nach Norden. Ganz am Ende stand es, dort standen die großen Hallen und dort stand auch das kleine, fast winzige Haus der Wichtel. Dort musste er hin. Dort wartete man auf ihn. Dort musste die schreckliche Nachricht abgegeben werden. Zielstrebig wehte er auf dieses kleine Haus zu. Er rüttelte an den Fensterläden und zwängte sich durch die kleinsten Ritzen der Türen durch. Er hatte sein Ziel erreicht.
Drinnen saßen sie alle an langen Tischen vor ihren Arbeitsplätzen und hämmerten und nähten. Farbe wurde aufgetragen, Kleider mit bunten Perlen bestickt. Autos fertig gestellt. Puppen verpackt. Kartons zusammen gesteckt. Es herrschte einfach ein buntes Treiben überall. Kleine Musikanten spielten die schönsten Weihnachtslieder auf selbstgefertigten Instrumenten und manche der kleinen Leute konnten es einfach nicht lassen und sangen so laut sie konnten. Es wurde getanzt und gelacht. Überall duftete es nach Plätzchen und nach heißem Kakao. Einfach gesagt es duftete nach Weihnachten.
Langsam zog der Wind auf den ersten Wichtel zu und streifte sein spitzes Ohr. Leise säuselte er und wie durch Magie überbrachte er seine schlechte Nachricht. Der Wichtel stellte sein geschäftiges Treiben ein. Er wurde ganz bleich im Gesicht. Plötzlich sprang er auf und rannte durch das riesige Portal in die große Halle. Der Wind hingegen flog von Wichtel zu Wichtel, man konnte fast sein leises Lachen hören, und langsam aber sicher stellten alle ihre Arbeit ein und wurden traurig. Manche weinten sogar und das ganze lustige Arbeiten hatte ein jähes Ende gefunden.
Im großen Saal
"Herr ... Herr ... Es ist passiert. Herr ... Der Südwind hat ...." der kleine Wichtel kam schlitternd zum Stehen.
"Ganter, was ist denn los? Warum höre ich kein Singen und kein Hämmern mehr? Seid ihr etwa schon fertig? Das wäre ja ein neuer Rekord."
"Nein Herr, der Südwind ist da. Er bringt schlechte Nachrichten für uns."
"Was bringt er denn dieses Mal für Nachrichten Ganter?"
"Herr ... sie ... sie, ist weg. Die Menschen versinken in Selbstmitleid. Keiner glaubt mehr so richtig an uns und an das Fest Herr. Ich glaube ..."
"Na, na Ganter. Wir haben doch schon schlimmeres überstanden oder? Geh schnell und bring mir mein Buch und schau das der Südwind zu mir kommt. Ich will es mir selbst anhören, was er zu sagen hat. Nun lauf schon Ganter oder sind die deine Beine am Boden angewachsen?"
Ein liebevolles und dumpfes Lachen folgte Ganter, als er aus dem großen Saal rannte.
Überall war die Musik verstummt. Alle Wichtel standen traurig einher und niemand wollte mehr etwas tun. Ganter hatte sich so was bereits gedacht. Dieser geschwätzige Südwind konnte es nicht lassen. Schlechte Nachrichten musste er einfach immer unter die Leute bringe. Es stand im Moment wirklich alles in Gefahr. Das ganze Fest war, wenn der Herr nichts dagegen tun konnte, zum Scheitern verurteilt. Die ganze Arbeit eines langen Jahres wäre umsonst gewesen. Das durfte einfach nicht passieren.
Ganter hatte endlich die Kammer des Herrn erreicht und wollte gerade eintreten, als die Tür vor ihm geöffnet wurde. Eine etwas dicklich Frau im roten Kleid stand vor ihm. Ihr weißer Pelzbesatz am Saum und an den Ärmeln leuchtet wie frisch gefallener Schnee. Aber die Augen, die sonst vor Liebe und Freude leuchteten, strahlen nun die Trauer aus die sich im ganzen Gebäude schon ausgebreitet hatte.
"Ganter. Ist es wirklich geschehen? Glauben die Menschen wirklich nicht mehr an uns. Sag schon. Was will er denn unternehmen? Ganter ..."
"Entschuldigung Herrin, aber ich soll das Buch holen. Der Herr will es sich noch einmal anschauen. Würdet ihr mir bitte das Buch geben?"
"Natürlich, mein Lieber. Hier nimm es. Ach nimm die Kugel gleich mit. Die wird er bestimmt brauchen. Die Engel stehen uns bei. Das darf nicht geschehen."
Tränen glitzerten auf ihren Wangen, als sie Ganter das goldene Buch und eine gläserne Kugel gab. Trotz ihres Lächelns konnte dies nicht darüber hinweg täuschen, dass selbst sie von der Traurigkeit der Wichtel getroffen worden war.
Wichtelberg
Silvia, lag in einem kleinen Zimmer in ihrem Bett und streichelte liebevoll aber mit Tränen in den Augen über den rundlichen Bauch. Sie war nicht gerade vom Glück gesegnet. Ihr Mann war im letzten Krieg verschwunden. Dass sie zu dieser Zeit von ihm schwanger war, wusste niemand. Sie wurde gemieden. Niemand wollte mit so einer Frau was zu tun haben, die angeblich ohne dass der Ehemann hier war, schwanger wurde. Deshalb hatte man sie im Krankenhaus auch in ein abgelegenes Zimmer verfrachtet. Die seltsamsten Gerüchte hausierten in Wichtelberg. Niemand wollte ihr glauben, dass Alex der Vater war. Die Familie hatte bereits die Hoffnung aufgegeben, dass er noch leben könnte, an eine Gefangenschaft glaubte außer ihr niemand. Offiziell würde es natürlich niemand zugeben, aber selbst die Schwestern hier hatten sie dies auf die eine oder andere Weise schon spüren lassen. Nun sollte sie auch noch einen Kriegverletzten ins Zimmer bekommen. "Wir haben leider keinen Platz mehr. Aber das wird doch schon gehen. Nicht war mein Liebe?", hatte die Schwester zu ihr gesagt.
"Oh meine Kleine was soll ich nur tun? Ich kann einfach nicht mehr. Es ist so unendlich schwer." Tränen glitzerten in ihren Augen. Wiederum schaute sie sich, wie in den letzten Tagen schön des Öfteren, das Formular an, welches vor ihr auf dem kleinen Tischchen lag. Erst vor kurzem war Edmund wieder hier gewesen und hatte sie abermals bedrängt, endlich zu unterschreiben. Aber sie konnte und wollte nicht an den Tod ihres Mannes glauben. Aber es viel ihr immer schwerer und schwerer. Besonders jetzt in der Weihnachtszeit. Ohne Mann.
Den Glauben an das Fest hatte sie bereits verloren. Wie gerne hatten sie zusammen gesungen und das kleine Häuschen festlich geschmückt. Wie schön hatte es immer geduftet nach Plätzchen und heißem Grog. Aber nun, war alles dunkel und trist. Wichtelberg. Das kleine und abseits gelegene Städtchen hatte sie damals alle beide in ihren Bann gezogen. Der Name hatte sie so sehr an die Weihnachtswichtel erinnert aber jetzt war es nur noch ein dämlicher Name für sie. Weihnachten war nur noch ein konsumgesteuerter Tag für sie und nichts anderes mehr.
Plötzlich kamen die Schmerzen. Die Wehen hatten eingesetzt.
Die gläserne Kugel
"Herr, ist sie das?", fragte Ganter.
"Nein"
"Aber sie leidet doch so. Der Südwind ..."
"Ganter. Der Südwind ist ein geschwätziger Wind. Du darfst nicht alles glauben. Es ist noch nicht alles verloren, hoffe ich doch. Sie muss nur den richtigen Weg finden."
"Herr, aber im Buch steht doch, das ..."
"Ganter. Sei ruhig und las mich überlegen"
"Ja, Herr, Verzeihung"
"Vielleicht sollten wir ihr etwas helfen mein kleiner Wicht. Wir haben nicht mehr viel Zeit."
Die eben noch leuchtende Kugel verblasste und somit auch das Bild einer Frau, die in einem Bett durch hell erleuchtet Gänge geschoben wurde.
"Ich habe wieder einen Auftrag für dich mein Engelchen, aber dieses Mal von größter Wichtigkeit. Du darfst nicht eingreifen, aber geleite sie auf den richtigen Weg. Ich möchte dir keine Angst machen Engelchen, aber es liegt jetzt alles an dir. Wir vertrauen dir. Flieg los mein Engelchen, hilf uns und rette Weihnachten."
Mittlerweile war auch die Herrin in den Saal eingetreten und ging zielstrebig auf ihren Mann zu. "Sag Nick, ist es wirklich so schlimm wie der Südwind berichtet. Stirbt nun wirklich die letzte ..."
"Aber meine Liebe. Du kennst doch das Buch genauso gut wie ich:
Erst wenn der Menschenengel spricht,
das Weihnachtsfest für mich nicht ist,
dann sollen alle Wichtellein,
zu Staub zerfallen und nicht mehr sein.
Doch durch den Namen - nur den einen
kann man es retten und wieder leimen,
dann wird des Fest der Weihnachtzeit
vom Anfang an vom Trist befreit.
Aber so weit sind wir noch nicht. Mein Liebe. Sie muss nur auf den richtigen Weg gebracht werden."
Der Name
Silvia lag in ihrem Bett und hatte ihr frisch geborenes Kind gerade im Arm, als sich die Türen zu ihrem Zimmer öffneten und der ihr angedrohte Kriegsverletzte mit einem Rollstuhl herein geschoben wurde. Sein ganzer Kopf war mit Bandagen umwickelt, die an manchen Stellen von getrocknetem Blut verschmiert waren. Behutsam halfen ihm die Schwestern ins Bett und deckten ihn zu.
"Na, meine Liebe, haben sie nun schon einen Namen für die Kleine?", fragte die Schwester.
"Nein", war die karge Antwort. "Ich habe noch keinen gefunden."
"Das wird aber nun mal Zeit. Wir müssen einen Namen in die Papiere eintragen. Aber sie können ja noch eine Nacht darüber schlafen."
Ein leises Stöhnen drang vom Nachbarbett herüber.
"Was ist dem mit ihm passiert?", wollte Silvia von der Schwester wissen.
"Er wurde am Ortsanfang von Wichtelberg gefunden. Vermutlich hat er sich bis dorthin geschleppt. Er hatte eine starke Kopfverletzung und war bewusstlos, als man ihn gefunden hatte. Keiner weiß, wer er ist. Aber so wie es aussieht, wurde er ziemlich brutal geschlagen. Er wird Sie aber nicht stören, meine Liebe. Er hat starke schmerzlindernde Medikamente bekommen. Machen Sie sich keine Sorgen. Sollte was sein, dann rufen Sie nach Schwester Annalena, nach mir. Ich bin immer in Ihrer Nähe", sagte die Schwester und lächelte Silvia liebevoll an.
Dies war wirklich die erste Schwester, die nett und liebevoll mit Silvia gesprochen hatte. Von ihr ging irgendwie eine Herzenswärme aus, die Silvia schon lange nicht mehr gespürt hatte. Sie fühlte sich wohl und geborgen in ihrer Nähe.
Die Schwester beugte sich über die beiden und streichelte Silvia leicht über die Wangen.
"Ihr Mann ist bestimmt stolz auf die Kleine, wenn er sie sieht. Sie ist so hübsch."
Silvia wollte ihren Augen nicht trauen, aber sie war sich sicher, als die Schwester ihr über die Wangen gestreichelt hatte einen goldenen Lichterschein gesehen zu haben. Aber nun war er wieder weg und sie blickte in das lächelnde Gesicht der Schwester.
Wieso nur fühlte sie sich im Moment so wohl? Solche Gefühle hatte sie eigentlich nur bei ihrem Mann gehabt. Beide wussten schon immer, dass sie irgendwie Seelenverwandte waren. Aber hier in diesem Zimmer und dann noch mit einem fremden Mann. Sie legte die Kleine zurück in die Decken und stieg selbst aus dem Bett. Hatte der Mann nebenan nicht noch eben gestöhnt? Sie ging langsam auf ihn zu. Außer seinen Augen konnte man wirklich nicht viel erkennen. Aber sie fühlte eine innere Unruhe.
Was Silvia nicht sah, war die Schwester, die in einem leuchtenden Lichterkreis vor der Tür stand uns zu ihr hinein schaute. Ein kleiner Schnipps mit den Fingern und die Schwester war weg.
Wiederum vernahm Silvia ein Stöhnen. Aber dieses Mal hätte sie schwören können, dass es sich dabei um einen Namen handelte, der gerufen wurde. Sicherlich durch die Bandagen gedämpft, war er nicht deutlich zu verstehen. Sie ging näher an das Bett und beugte sich vorsichtig über den darin Liegenden. Die Augen, die Augen zogen sie einfach an. Ganz vorsichtig brachte sie ihr Ohr in die Nähe seines Mundes. Da, da war es wieder. Soeben hatte er wieder versucht etwas zu sagen, aber was? Wie durch einen inneren Zwang getrieben, fing sie an die Verbände um seinen Kopf zu lösen. Sie wollte Gewissheit haben. Konnten ihre Gebete erhört worden sein? Konnte dies wirklich ihr Mann sein? Schneller und schneller wickelte sie die Binden ab und als sie die letzte entfernt hatte, blieb ihr Herz fast stehen. Vor ihr lag ... selbst unter den blauen Flecken und Schnittwunden zu erkennen ... ihr Mann. Tränen schossen ihr in die Augen und tropften von ihren Wangen auf sein Gesicht. Nun konnte sie auch verstehen, was er vor sich hin säuselte. "Silvia, meine Silvia." Dies hatte er die ganze Zeit gesagt. Er hatte ihren Namen gerufen. Schnell holte sie das Baby aus dem Bett und legte es ihrem Mann in die Arme. Hier mein Liebster, nun sind wir vereint. Hier ist unserer Tochter Hope. Ja, genau. Hope soll sie heißen. Weil sie mich die Hoffnung nicht aufgegeben ließ. HOPE."
Genau zu diesem Zeitpunkt fingen plötzlich die Glocken in ganz Wichtelberg, wie von Geister- oder besser gesagt von Engelshand geführt, an zu läuten und wenn man ganz genau hinhörte, konnte man auch das Lachen und die Musik der Wichtel leise im Wind hören. Am Ende von Wichtelberg sah man die im Lichterschein stehende Schwester, wie sie sich langsam auflöste und verschwand. "Danke meine Liebe. Du hast uns alle gerettet. Du hast uns die Hoffnung geboren.