FAULENZERLAND – EIN SCHÖNES LAND.
Fast geräuschlos auf seinen Gummirädern näherte sich ein großer Postwagen. Ihn zogen zwölf Paar
Eselchen, alle gleich groß, nur verschiedenfarbig. Da gab es graue, weiße, gesprenkelte, gefleckte, gestreifte, gelbe und sogar blaue Esel.
Man erblickte keine Hufe; denn die Tiere trugen gelbe Schuhe mit Gummisohlen.
Und erst der Kutscher! – Denkt euch ein kugeliges Männchen, fettglänzend wie einen Butterballen. Sein Gesicht glich einem rotbackigen Apfel; um sein Mündchen flog immerdar ein süßes Lächeln; seine Stimme war so schmeichelhaft zart wie das Schnurren der Katze, die sich der Herrin in den Schoß legen will.
Alle Knaben waren von der Liebenswürdigkeit des Männleins gefangen, wenn sie ihn nur sahen, stiegen sofort in seinen Wagen und fuhren mit ihm ins Faulenzerland.
Auch diesmal war das Gefährt schon dicht besetzt. Die kleinen Faulenzer saßen gedrängt wie Heringe in der Tonne. Aber keiner beklagte sich. Alle waren froh, ins glückliche Land zu kommen, wo die Bücher und die Schulen verboten sind. Sie dachten nicht mehr an die Eltern, hatten keinen Hunger mehr, vergaßen den Schlaf und waren voll Freude und Ausgelassenheit.
Das Fuhrwerk blieb stehen. Lächelnd fragte der Kutscher den Röhrle:
»Sag, mein Söhnchen, willst du auch mitfahren ins glückliche Land?«
»Natürlich will ich mit!«
»Aber sieh, es gibt keinen Platz mehr im Wagen; er ist schon völlig überfüllt.«
»Es wird schon gehen«, meinte Röhrle, »im schlimmsten Falle kann ich mich auch auf das Trittbrett setzen; ich habe es schon oft gemacht.« – Wirklich fuhr er auf dem Trittbrett mit.
»Und du, mein lieber Kleiner«, wandte sich der Kutscher an Bengele, »was hast denn du im Sinn? – Fährst du auch mit?«
»Ich gehe nicht mit. – Ich gehe jetzt heim, ich will lernen und ein ordentlicher Knabe werden.«
»Viel Vergnügen und viel Glück!«
»Bengele«, rief Röhrle, »horch! komm mit, wir wollen ein lustiges Leben führen!«
»Nein, nein, ich bleibe da!«
»Komm doch mit«, schrien alle aus dem Wagen, »wir wollen vergnügt miteinander spielen.«
»Ja, aber was wird meine gute Mutter sagen?« entgegnete Bengele; doch schon war es ihm leid, daß er daheim bleiben sollte. Er fuhr mit dem Ärmel über die Augen.
»Werde mir doch nicht trübsinnig«, sprach da das dicke Männchen, »komm mit ins Land der Freude!«
Bengele tat einen tiefen Seufzer, dann noch einen und einen dritten. Er war besiegt und sprach:
»Macht mir ein wenig Platz! – ich fahre mit.«
»Es ist alles besetzt«, sprach das Männchen, »aber du sollst sehen, wie gern ich dich habe. Komm und setze dich auf den Kutscherbock!«
»Und Sie?«
»Ich gehe zu Fuß nebenher.«
»Nein, nein, das gebe ich nicht zu! – Dann setze ich mich lieber auf einen Esel und reite«, sprach Bengele.
Gleich sprang er auf den ersten Esel rechts an der Deichsel. Der aber bäumte sich und warf ihn ab. – Das Gelächter und den Spektakel der Knaben hättet ihr hören sollen! – Aber das fette Männchen lachte nicht. Gelassen ging es auf den widerspenstigen Esel zu, tat, als sage es ihm etwas Liebes ins Ohr, biß ihm aber in Wirklichkeit die Ohrenspitze ab.
Bengele war von seinem Falle wieder aufgestanden; er schämte und ärgerte sich. Noch einmal schwang er sich elegant auf den Esel. Alle Knaben im Wagen bewunderten den Hampelmann; sie riefen: »Brav gemacht, Bengele!« und klatschten ihm Beifall.
Die Reise ging weiter. Gleichmäßig trabten die Eselchen dahin. Bengele fühlte sich schon ganz sicher im Sattel und dachte nicht mehr an die Bosheit seines Reittieres. Da fiel dem Esel eine neue Schlechtigkeit ein. Plötzlich hob er beide Hinterbeine hoch, und Bengele sauste über seinen Kopf weg in den Straßenschmutz.
Neuer Spektakel im Wagen! Aber das Männchen sagte dem Esel etwas ins andere Ohr und biß ihm die andere Ohrenspitze ab.
Hierauf tröstete es den Bengele und sprach:
»Nun setze dich ruhig auf den Burschen da! Er hatte Grillen im Kopfe, aber ich habe sie ihm herausgeblasen. Jetzt ist er fromm und wirft dich nicht mehr ab.«
Bengele stieg auf. Der Wagen rollte weiter. Die Knaben schwatzten und lachten nicht mehr. Auf einmal hörte Bengele ein verstohlenes Geflüster: »Armer Tölpel! Ungehorsam und herzlos bist du von der Mutter weggelaufen; bald wird es dich reuen!«
Bengele bekam Angst und schaute sich nach allen Seiten um. Es war niemand zu sehen. – Die Esel trippelten gleichmäßig weiter, im Wagen schliefen die Knaben, Röhrle schnarchte, das Männchen auf dem Bocke sang leise vor sich hin:
Ich fahre durch die Länder
In stiller dunkler Nacht.
Zwei Dutzend fauler Knaben
Hab' heut ich aufgebracht.
Die bunten Esel fuhren
Als Knaben einmal mit,
Und spielend lernten alle
Den leichten Eselschritt.
Es geht das Spiel zu Ende,
Eh's einer nur bedacht, –
Und neue Esel ziehen
Den Wagen in der Nacht.
Bengele achtete nicht auf das Lied. Er wollte wissen, woher das eigentümliche Geflüster gekommen war, und strengte seine Augen an, ob vielleicht doch jemand in der Nähe sei. Da ließ sich dieselbe Stimme wieder vernehmen:
»Bengele, dummer Hampelmann, laß es dir sagen: Wer nicht lernt und die Bücher nicht leiden mag, wer seinen Eltern davonläuft und dem Lehrer, wer nur faulenzen und spielen will, mit dem nimmt es ein schlimmes Ende. Ich spreche aus Erfahrung; glaube mir! Der Tag wird kommen, wo du weinst wie ich; aber dann ist es zu spät.«
Entsetzt sprang der Hampelmann vom Esel und faßte ihn am Zügel. – Der Wagen hielt an. Bengele wußte nicht, was er denken sollte: sein Esel weinte wie ein Kind.
»Heh! Herr Kutscher!« rief Bengele, »was soll das heißen, der Esel da kann ja weinen!«
»Laß ihn weinen, er wird auch wieder lachen.«
»Gut! Aber wer hat ihn zum Sprechen abgerichtet?«
»Er hat von selber ein paar Worte gelernt, weil er drei Jahre lang mit dressierten Hunden zusammen war.«
»Du armes Tier!«
»Hi! hi!« rief der Kutscher und schwang die Peitsche; »wir können keine Zeit verlieren, weil mal ein Esel weint. – Setze dich in den Sattel! Vorwärts, wir haben noch einen weiten Weg.«
Bengele gehorchte ohne Widerrede. Der Wagen fuhr weiter, und am andern Morgen kamen sie glücklich ins Faulenzerland.
Wie dieses Land gibt es kein zweites auf der ganzen Welt. – Hier wohnen nur Knaben. Die ältesten sind 14 Jahre alt, die jüngsten etwa 8 Jahre. Auf allen Straßen geht es lustig her. Da ist ein Spektakel und ein Gebrüll, daß man die Ohren verstopfen möchte. – Überall sind Knabenscharen. Die einen spielen mit Klickern, andere Tanzknopf, andere alle Art Ballspiele, andere fahren Rad, wieder andere haben ein Schaukelpferd. – Hier machen sie »Blinde Kuh«, dort »Drei Mann hoch«, dort »Hasch-Hasch«. Die singen, die schlagen Purzelbäume, da läuft einer auf den Händen, dort schlägt einer ein Rad, hier marschiert ein strammes Generälchen mit Papierhelm und Holzsäbel. Sie schreien, lachen, fuchteln mit den Händen. Der eine pfeift, ein anderer singt und ein dritter ahmt sogar die Hühner und Hähne nach: ki-ke-ri-ki!
Der Lärm ist ohrenbetäubend, die reinste Hexenküche.
Auf allen Plätzen gibt es kleine Theater, die von Morgen bis Abend überfüllt sind. An den Häusern sieht man mit Kohle und Kreide allerhand Unfug anschrieben:
»hoch faulentzerlant!« – »Wier wolen keine schuhle Meer!« – »Fort mit den Rechenbiechern.«
Merkst du, kleiner Leser, wer das geschrieben hat?
Bengele, Röhrle und die Kameraden, die mit dem Männchen kamen, wurden bald mit den anwesenden Faulenzern bekannt. Sie machten überall mit und waren bald die glücklichsten Kinder auf der Welt. Wie der Blitz flog die Zeit dahin mit Spielen und Spassen.
»Wie schön ist jetzt das Leben!« sagte Bengele, so oft er den Röhrle traf.
»Siehst du«, meinte dieser einmal, »ich habe doch recht gehabt. – Du wolltest heim zu deiner Fee und lernen. – So eine Verrücktheit! – Daß du heute nicht in der langweiligen Schule sitzest, hast du mir allein zu verdanken. – Und wie mußte ich mir Mühe geben, bis ich dich so weit gebracht hatte! – Aber nun siehst du ein, daß ich eben doch allein dein guter Freund bin.«
»Es ist wahr, Röhrle«, gestand Bengele, »dir verdanke ich mein Glück. – Aber weißt du auch, was der Lehrer einmal über dich sagte?«
»Na?«
»Er warnte mich und sprach: »Verkehre nicht mit dem Röhrle; er ist ein schlechter Kamerad und verleitet dich nur zu bösen Streichen!«
»Der dumme Lehrer!« bedauerte Röhrle; »er hat mich nie leiden können, ich weiß es wohl. Darum hat er mich immer verleumdet. – Aber ich verzeihe ihm und will es vergessen.«
»Du bist ein guter Kerl«, sagte Bengele, umarmte herzlich den Röhrle und versprach ihm ewige Freundschaft.