Der Frühling, in dem Marlene Steiner zu uns nach Kleindüppel zog, war ein besonders lämmerreicher Frühling. Das muss es gewesen sein, denn ansonsten könnte ich mir heute nicht erklären, was Marlene Steiner in Kleindüppel hielt. Doch eigentlich zog sie im Frühling gar nicht in unser Dorf, im Frühling kam sie nur das erste Mal her. Niemand kommt aus eigenem Antrieb oder eigenem Willen nach Kleindüppel; und auch Marlene Steiner, so anders sie in vielen Punkten auch gewesen sein mag, machte in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Sie war die einzige lebende Verwandte von Magdalena Dörfler, einer alten verwitweten Dame, die im Winter vor Marlene Steiners Ankunft verstorben war und damit die glückliche Erbin des kleinen, aber hübsch verzierten Häuschens am Rande des Dorfes. Wie genau sie mit Magdalena Dörfler verwandt gewesen war, konnte auch sie nicht sagen, über das Erbe war sie trotzdem in höchsten Maßen erfreut. Das Häuschen, welches sie geerbt hatte, war in einem warmen Beige gestrichen und hatte ein freundlich braunes Dach, war reichlich mit Stuck verziert und für eine Städterin, wie Marlene Steiner es ja war, mag der dazugehörige Garten auch groß erschienen sein. Es war eines der schönsten Häuschen in ganz Kleindüppel, das einzig Negative war sein Standort; Kleindüppel.
Kleindüppel ist ein Zweihundert-Seelen-Dorf mitten im Nirgendwo, das von einer großen Dorfstraße durchzogen wird, an der so gut wie jedes Haus liegt, nur einige liegen an den von der Dorfstraße abgehenden Wegen etwas abseits und beinahe schon im Wald. In der Woche fährt dreimal täglich ein Bus und an den Wochenende zweimal täglich aus Kleindüppel in die nächstgelegene Stadt. Kleindüppel verfügt über nichts, was es attraktiv machen könnte, es hat noch nicht einmal eine besonders schöne Kirche. Es ist so farblos, wie es einem Dörflein nur möglich sein kann. Die Geschäftsanzahl ist begrenzt und doch gibt es gerade genug; einen Bäcker, eine Buchhandlung, die auch gleichzeitig die Funktion eines Schreibwarenladens erfüllt, einen Gasthof, eine Kirche mit Gemeindehaus, auch wenn sie nicht schön genug ist, um Besucher anzuziehen, eine Feuerwehr- wie Polizeiwache, einen Supermarkt, der eher an die Krämerläden erinnern lässt, die es früher noch an jeder Ecke gab, und meinen Friseursalon. Für alles weitere ist man gezwungen, in die besagte nächst gelegene Stadt zu fahren. Doch all diese Tatsachen schreckten Marlene Steiner nicht davon ab, sich bei uns einzunisten.
Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem die junge Frau, mit dicken roten Haaren, den tiefgrünen Augen, den Sommersprossen auf der Stupsnase und dem frechen, ja beinahe herausfordernden Gesichtsausdruck, in Kleindüppel erschien. Sie kam mit einer Ente und das Auto passte zu ihr. Es war, wie bereits erwähnt, Frühling und ich schnitt gerade Elisa Willers Haare. Elisa Willer hatte stets Wert auf ihre langen, schwarzen Haare gelegt und ließ sich auch an diesem Tag nur die Spitzen schneiden. Die Ente hielt mit so quietschenden Bremsen vor meinem Salon, dass Elisa erschrocken den Kopf wendete und ich beinahe einen halben Zentimeter zu viel abgeschnitten hätte. Ich war eine stille Friseuse, brachte auch meinen Angestellten, die regelmäßig wechselten, weil es keiner von ihnen lange in Kleindüppel aushielt, stets bei, wie unhöflich es war, die Kunden zu bequatschen. Ich selbst erwartete von meinem Friseur Diskretion und las meistens Zeitschriften und dasselbe wollte ich auch meinen Kunden bieten. Das, so fand ich, zeichnete mich aus. Und in einem Dorf, wo auf Tradition viel Wert gelegt wurde und man sich anzupassen hatte, war ich stolz darauf, etwas zu haben, was mich eigens auszeichnete und doch nicht von den anderen ausschloss.
Marlene Steiner aber hatte vieles, was sie eigens auszeichnete, das sollte ich bald merkte, doch eigentlich spürte ich es schon von dem Augenblick an, in dem sie meinen Laden betrat. Ihre Haare wirkten etwas zersaust und doch gepflegt und natürlich und fielen schwer über ihre Schultern. Sie standen so im kompletten Widerspruch zu meiner blondgelblich getönten Dauerwelle, auf die ich doch so stolz war. Marlene Steiner schien sich im Gegensatz zu mir jedoch keine Gedanken über Frisuren zu machen, eher wirkte sie etwas abgehetzt und den Kopf voll anderer wichtiger Gedanken. Ein weiteres Merkmal, was sie von uns Kleindüpplern abhob, die wenigsten hatten noch wichtige Gedanken im Kopf. Wenn man viel Zeit hat - und die hat man in Kleindüppel normalerweise - sind wichtige Gedanken schnell verbraucht. Marlene Steiner aber hatte ihren Kopf voll davon. Sie fuhr sich mit der Hand durch ihre rote Mähne, warf einen flüchtigen Blick in meinen Salon, bis ihre Augen auf Elisa und mir ruhen blieben. Dann überzog ein angedeutetes Lächeln ihre Gesichtszüge und sie nickte uns zu. "Guten Morgen", begrüßte sie uns und schien so gar nicht zu bemerken, welch eine Sünde es für mich war, um zwölf Uhr mittags einen guten Morgen zu wünschen, wo in jeder anständigen Familie die Mutter um zwölf Uhr das Mittagessen zu kochen beginnt, damit es um spätestens ein Uhr auf dem Tisch zu stehen hat. Ich probierte mein einstudiertes Lächeln aufrechtzuerhalten, eine der wichtigsten Übungen, die ich auch meinen Angestellten immer wieder beibrachte. "Ihnen auch einen guten Tag", grüßte ich zurück, "was führt Sie zu uns? Wenn Sie einen Termin möchten - nach dieser Dame habe ich für Sie Zeit!" "Ganz bestimmt nicht", lachte Marlene Steiner; ich glaube, das war der Moment, in dem mir klar wurde, dass Marlene Steiner und ich uns niemals verstehen würden. "Ich wollte eigentlich nur wissen, wo dieses verflixte Haus hier liegt", erklärte sie und hielt uns ein vergilbtes Foto des Häuschens von Magdalena Dörfler unter die Nase, "wissen Sie, ich habe es geerbt aber es gibt keine nähere Beschreibung, wo es liegen soll. Nur Kleindüppel ist als Adresse angegeben und bis ich dieses Nest hier gefunden hatte, bin ich schon eine halbe Ewigkeit durchs Nirgendwo gefahren, können Sie sich das vorstellen?" Im Spiegel konnte ich Elisas Wangen vor Vergnügen rötlich aufleuchten sehen, im Gegensatz zu mir ließ sie sich von Marlene Steiners rasanten Art sofort mitreißen und mochte die junge Dame. Ich räusperte mich bedeutend, ehe ich mir das Foto näher besah und ihr den Weg zu ihrem Häuschen beschrieb. "Vielen Dank!", rief Marlene Steiner noch im Rausgehen und ich musste mir eingestehen, dass sie offensichtlich doch die eine oder andere Manier besaß. Dann brauste sie mit ihrer Ente auch schon wieder unsere Dorfstraße runter, wie es noch nie jemand getan hatte. Nachdem sie meinen Salon verlassen hatte, erschien er merkwürdig still, es war, als hätte sie eine große Lücke hinterlassen. Doch wahrscheinlich bildete ich mir das nur ein. Elisas Spiegelbild suchte den Blickkontakt zu mir. "Nette Dame, nicht wahr?", fragte sie. "Hm", machte ich und konzentrierte mich auf die Symmetrie beim Spitzenschneiden. "Mal etwas anderes. Sie hat eine ... nun ja, wie soll ich sagen? Positive Ausstrahlung", plapperte Elisa unbesonnen weiter, "bringt Leben nach Kleindüppel. Sagte, sie wäre die Erbin des Häuschens. Vielleicht bleibt sie ja. Wäre doch schön, meinen Sie nicht auch?" "Hmm", wiederholte ich. "Hier ist es manchmal so ...", begann Elisa und rang nach Worten, "na ja, eintönig. Gleich. Alles eine Richtung. Also, ist ja auch gut so, war ja schon immer so. Aber ich weiß nicht. Eine wie sie würde Kleindüppel schon brauchen, nicht?" Elisa seufzte auf. "Bitte bewegen Sie sich doch nicht so", bat ich ungeduldig. Erschrocken hielt Elisa ihren Kopf still. Und ihren Mund auch.
Das war das erste Mal, dass Marlene Steiner nach Kleindüppel kam. Sie blieb nur ein Wochenende, doch sie blieb noch lange in aller Munde und war es auch noch, als sie das zweite Mal kam. Viele waren anfangs ihr kritisch gegenüber, doch es gab kaum jemanden, der nicht bald von ihr hingerissen war. Natürlich wurde über sie getratscht, wie über jeden in Kleindüppel, doch was zählte, war die ehrliche Herzlichkeit, mit der jeder im Dorf ihr gegenübertrat. Denn so sehr die Höflichkeit doch in Kleindüppel herrschte, war die Herzlichkeit für viele eine Rarität und da hätte jeder gerne in Kauf genommen, dass er der Mittelpunkt aller Lästereien war, wenn man ihm dafür doch herzlich aufnahm und in die Arme schloss, nicht mit zugekniffenem Lächeln, sondern mit breitem Strahlen grüßte. Marlene Steiner schaffte es, in den älteren Frauen Mutterinstinkte zu wecken und in den älteren Männern Vaterstolz aufblühen zu lassen, den jungen Männern den Kopf zu verdrehen und den gleichaltrigen Frauen Freundin und Vorbild in einem zu sein und den kleinen Kindern den Wunsch der perfekten großen Schwester ein bisschen lebendiger werden zu lassen. Wann immer sie mit ihrem beschwingten Gang durch die Straße von Kleindüppel brauste, schienen selbst die Sonnenblumen ihr Gesicht lieber Marlene Steiner als der Sonne zuzudrehen. Doch all das genügte Marlene Steiner nicht, sie wollte mehr. "Veränderung", sagte sie immer, "bloß weil vor zweihundert Jahren alles paletti war, heißt das doch nicht, dass ihr nicht nach heutigen Größen leben könnt. Vor zweihundert Jahren ist vor zweihundert Jahren und heute ist heute." Von dieser so simplen philosophischen Feststellung waren viele sehr angetan. Doch, wie ich befriedigt feststellen durfte, mit der Umsetzung taten sich alle schwer. An einem Abend im Gasthof, an dem sie sich mal wieder der strahlenden Sonnenkönigin gleichtat und alle Blicke auf sich zog, probierte sie uns unsere Probleme zu erklären. "Wisst ihr", begann sie, "ihr seid alle so großartige Menschen und jeder sieht von außen vielleicht gleich aus, wozu eure doch recht ähnlichen Frisuren wohl beitragen" - sie zwinkerte mir freundlich zu, als wolle sie dem Satz damit die Schärfe stehlen - "doch von innen, da seid ihr alle so verschieden, dass wisst ihr gar nicht, glaube ich. So viele bunte Menschen. Ihr redet und redet und jede Kleinigkeit würde von euch zehnmal betratscht und all die Sachen, über die ihr reden könntet, die schweigt ihr einfach tot. Die Sachen, die unter die Haut gehen. Sachen, Charakterzüge von Menschen, die sie von anderen abheben könnten. Bei euch ist Anderssein so negativ. Da, wo ich herkomme, in Berlin, da will man anders sein. Bunt sein. Da will man Gesprächsthema sein dürfen. Und da will man anderen eine Freude machen, indem man sie zum Gesprächsthema macht. Geht doch mal auf eure ... eure Details ein, auf die vielen Facetten und versteckten Überraschungen, die jeder von euch verbirgt. Zum Beispiel ... zum Beispiel Theo!" Marlene Steiner zeigte auf Theodor, den niemand "Theo" nannte. Er war ein einsamer Witwer, der sich samstags manchmal zukippte, doch ansonsten niemand, der auffiel. Die nun auf ihn gerichtete Aufmerksamkeit war für ihn scheinbar ungewohnt, doch irgendwo, so dachte ich bei mir, sonnte er sich auch darin. "Ja, schaut ihn euch an", fuhr Marlene Steiner freundlich lachend fort, "wisst ihr, was Theo in seiner Freizeit macht? Habt ihr euch das schon mal gefragt? Habt ihr ihn das schon mal gefragt? Nun, ich will es euch sagen. Er malt Bilder, er malt ganz wunderbare, ganz sagenhafte Bilder, voller Farben und voller Abwechslung und seine Bilder, die sind, wie ihr sein solltet. Wenn ihr redet und ihr würdet über Farben reden, dann würdet es nur um Schwarz und Weiß gehen und gar nicht um alle, die dazwischen in der Farbpalette liegen. Doch was ist mit denen? Sind die nicht, bloß weil ihr nicht über sie redet? Die leben doch weiter, doch sie strahlen nicht so schön, bloß weil ihr sie nicht benennt! Redet, Leute, redet! Und nicht nur über die schönen Farben. Auch über die trüben und stechenden, beißenden Farben, benennt sie alle, redet über sie und ich verspreche euch, der Gesprächsstoff wird euch niemals ausgehen und eine neue Atmosphäre wird in Kleindüppel einkehren! Lasst Kleindüppel leben - und tratscht es nicht zu Tode!" Nach dieser atemberaubenden Rede, zumindest was Marlene Steiners Atem betraf, herrschte erst Stille und dann begann plötzlich jemand zu klatschen. Es war Elisa und nach und nach stimmten alle mit ein. Das Klatschen war so laut, dass es selbst mich übertönte als ich, eigentlich laut genug wie ich doch meinen will, murmelte: "Sie sollte Politikerin werden - ihre Rede zumindest würde jeden Abgeordneten gelb vor Neid werden lassen!" Warum überhörte es jeder? Und die, die es hörte, warum überhörten sie alle den Sarkasmus in meinem Satz? Bald musste ich jedoch feststellen, dass es nicht die Abgeordneten sein sollten, die Gelb vor Neid wurden - sondern ich. Denn Marlene Steiner sollte schon bald zu einem weiteren Schlag ausholen, der mich direkt treffen würde.
Den Moment, an dem ich aus dem Schaufenster meines Salons blickte und das erste Mal das New Style entdeckte, werde ich wohl nie vergessen. Ich hatte gerade eine Tasse Schwarztee an die Lippen gesetzt - ohne Zucker und Milch, wie ich es liebe -, als ich quer gegenüber auf der Straßenseite das New Style entdeckte. Wie es zwischen den grauen Häusern hervorstach, obwohl es sich doch in genau einem solchen befand! Doch Blumen, bunte Blumen verschiedenster Arten, standen vor dem Laden und grenzten damit fast eine Art Vorgarten ab, in dem silberglänzende Gartenmöbel standen, ja sogar ein Liegestuhl. Das Schaufenster des Ladens gab einen Einblick in diesen frei; ein Tisch war von innen am Schaufenster angebracht, so dass man von diesem Platz aus bestimmt einen herrlichen Blick auf die friedliche Kleindüppler Straße hatte. Es war ein Platz, der nach gemütlichen Nachmittagen bei Latte Machiatto geradezu schrie - das musste sogar ich mir eingestehen, auch wenn ich dieses perverse Modegetränk natürlich strikt ablehnte, mein Schwarztee ohne Zucker und Milch hat meine ganzen 49 Lebensjahre gereicht und würde es auch die restlichen noch tun, davon war ich fest überzeugt.
Das Geschäft war in einem warmen Dunkelgelb, beinahe einem Orange gestrichen und schlichte, aber effektive Bilder der abstrakten Malerei zeugten von Geschmack und Stil. Meine Nackenhaare sträubten sich und das Blut schoss mir in den Kopf vor Ärger, ich verschluckte mich an meinem Schwarztee und begann zu husten, als ich jedoch den wirklichen Sinn, den Ursprung, dieses als Café getarnten Ladens entdeckte: Es war ein Frisiersalon, wie sich aus der übrigen Ausstattung schließen ließ. Und der Name eine pure Provokation: New Styles. Es bestand kein Zweifel, wer die Urheberin und Besitzerin des Übels war: Wer sollte es anderes sein als Marlene Steiner? Und wie zur Bestätigung meiner Vermutung erschien sie in eben diesem Moment in der Tür ihres Ladens und winkte dem Postboten zu, der gerade die Straße auf seinem Fahrrad entlang fuhr. Er winkte zurück, mit einem Stapel Post in der Hand. Dann machte er einen Schlenker und hielt bei mir auf der Seite am Straßenrand, sprang von seinem Rad ab und betrat meinen Salon. "Guten Tag, Barbette", begrüßte er mich, "ich habe hier einige Briefe für Sie - und etwas Werbung ist natürlich auch dabei!" Er drückte mir einen Stapel Papiere in die Hand und zwinkerte mir freundlich zu. Wie er sich verändert hatte, seit Marlene Steiner ihm immer eines ihrer Lächeln schenkte, mit denen sie nur so um sich warf! Ich vermisste ihn, wie er früher gewesen war - verkniffene Lippen, still, ruhig, höflich, nie ein Wort zu viel. Ich dankte ihm eisig und war dankbar, als ich die Tür wieder hinter ihm zuschlagen sah. Dann betrachtete ich, was er mir so eben gegeben hatte - und ließ den Stapel unwillkürlich fallen. Der Zettel, der die Ursache dieses Missgeschicks war, segelte in leichten Bögen unschuldig und gelb leuchtend dem Boden entgegen. Doch selbst von da biss mich sein Schriftzug noch in die Augen - New Styles - ob auf einen Kaffee, für eine neue Frisur oder einen Plausch; das New Styles verwehrt keinem den Zutritt! Als ausgebildete Friseuse will ich gerne auch in Kleindüppel etwas Neuen einziehen sehen - in Form von frischen Frisuren zu Freundschaftspreisen! Ich freue mich auf euch, eure Marlene. Fehlt nur noch, dass sie mit "Marli" unterschreibt, dachte ich ärgerlich und lugte durch mein Schaufenster zu dem ihren herüber. Marlene Steiner plauderte gerade mit Elisa. Die beiden verstanden sich gut. Natürlich verstanden sie sich gut - mit wem, außer mir, verstand sich Marlene Steiner denn nicht gut? So intensiv wie sich mit den Menschen beschäftigte, erschaffte sie in jedem die Illusion, etwas Besonderes zu sein. Und Elisa genoss das ganz besonders. Jeder im Dorf wusste, wie schlecht es ihr mit ihrem Mann ging. Die beiden hatten vor fünf Jahren geheiratet, so wie es sich ihre Eltern gewünscht hatten. Damals war Elisa zwanzig und er einundzwanzig gewesen. Nicht, dass er sich nicht gut um sie kümmern würde - aber Elisa, dieses naive junge Ding, wollte keine Kinder, noch nicht; er schon. Manche im Dorf munkelten sogar, dass sich Elisa sehr wohl Kinder wünsche, aber nicht mit ihrem Mann. Elisa wusste natürlich nichts von den Munkeleien, so war das eben in Kleindüppel und so war es schon immer gewesen. Konnte Marlene Steiner nicht akzeptieren, dass es so war? Und dass es so sein sollte? Zurzeit hatte Elisa mal wieder einen besonders schlimmen Streit mit ihrem Mann und durch den Dorftratsch hatte ich mitbekommen, dass Marlene Steiner Elisa scheinbar zu einer Trennung überreden wolle. Welch eine Sünde! Eine Trennung in Kleindüppel, so etwas hatte es noch nie gegeben und so etwas sollte es auch nie geben dürfen. Wusste Elisa denn nicht, wie unglücklich sie damit ihre Familie machen würde? Stimmte es, was der Tratsch sagte, stimmte es, dass sie einer Trennung gegenüber schon lange nicht mehr so abgeneigt war wie früher? Dabei hatte sie doch vor gerade mal fünf Jahren lebenslange Zweisamkeit geschworen, hatte dies in heutigen Zeiten denn gar keine Bedeutung mehr? Ich war auch verheiratet gewesen, doch vor zehn Jahren war mein Mann gestorben. "Bis der Tod euch scheidet" - so lautete die Bedingung, die man mit einer Hochzeit zu erfüllen hatte und ich hatte sie erfüllt. Auch wenn wir nie Kinder gehabt hatten. Ich dachte inzwischen relativ gleichmütig an die Zeit mit ihm zurück. Er war dann überfahren worden und ich hatte getrauert - lange genug, ein halbes Jahr lang, um dann ein neues Leben zu beginnen, ohne Mann, und hatte den Salon meiner Mutter übernommen. So, wie es die Tradition verlangte.
Nun folgte Elisa auch noch Marlene Steiner in den Laden. Sie setzte sich auf einen der Frisierstühle und bekam einen Latte Machiatto. Mir schien es, als würde er bis zu mir durch all die Schaufenster durch und über die Straße hinüber duften und ich nahm einen tiefen Schluck meines Schwarztees. Dann begann Marlene Steiner Elisas Spitzen zu schneiden. Ich schnappte laut nach Luft. Das durfte doch nicht wahr sein! Doch es wahr war und auch ich sah bald ein, dass mein Salon gegen das New Styles wohl kaum eine Chance haben würde. Marlene Steiner war es gelungen. Sie hatte die Kleindüppler zumindest äußerlich verändert, auch wenn ihnen die "frischen Frisuren" häufig etwas zu gewagt waren, war das New Styles doch nie leer. Im Gegensatz zu meinem Salon. Harte Zeiten brachen nun an. Zeiten voll mit Schwarztee ohne Milch und Zucker, den ich immer in der Hand hielt, während ich in meinem Laden saß und durch die Scheibe hindurch das Geschehen im New Styles verfolgte. Besucher in meinem Laden waren nur noch selten. Ab und zu kam meine Großcousine mal vorbei oder jemand, der kein Termin mehr im New Styles bekommen hatte. Im Gasthof hörte ich immer, wie intensiv sich Marlene Steiner um ihre Kunden kümmerte. Dass sie stets predigte, dass mit den Problemen jeder zu ihr kommen könnte. Wer immer Sorgen hatte, ließ sich die Haare schneiden und frisieren und sprach mit ihr über seine Seelendrücker. Und vorsichtig begannen die ersten Kleindüppler ihre alte Hülle abzustreifen. Verzagt zwar nur - doch bedenklich genug, wie ich fand. Und als sich Elisa Willer von ihrem Mann scheiden ließ und ich eine Woche lang keinen Kunden mehr empfangen hatte, spürte ich, dass die Zeit gekommen war, für eine Veränderung zurück- nicht vorwärts, wie Marlene Steiner immer sagte, sondern zurück in die Zeit, in der alles wie immer gewesen war. Und dass Marlene Steiner in dieser Zeit keinen Platz hatte.
Elisas Haare wurden immer kürzer. Weiterhin ließ sie sich nur die Spitzen schneiden - doch dies so häufig, dass ihr die ehemals langen, langen Haare nach einem Monat nicht mal mehr bis zur Schulter reichten. Gerd Wibald, der Bäcker, der Marlene Steiner anfangs auch nicht gemocht hatte, ließ sich nun täglich eine neue Frisur machen. Auch meine Großcousine stattete Marlene Steiner immer öfter einen Besuch ab und sei's, dass sie sich bloß eine Locke nachdrehen lassen wollte. Das New Styles lief immer besser.
Es dauerte zwei Monate, bis ich an Marlene Steiners Äußeren die ersten Veränderungen ablesen konnte. Marlene Steiner war blass geworden, geradezu weiß. Die roten Haare hatten ihren Glanz verloren, ebenso die grünen Augen. Ihr Lachen, ihr Lächeln, beides wurde immer seltener. Bald schloss der Laden zwei Tage lang aus "gesundheitlichen Gründen". Tage, in denen halb Kleindüppel vor Marlene Steiners Haus stand und Besserungswünsche übermitteln wollte, doch Marlene Steiner wollte niemanden empfangen, niemanden sehen. Die Vorhänge waren zugezogen. So war es das erste Mal, als sie krank war. Und das zweite Mal, als sie zwei Wochen später erneut krank war, auch. Das dritte Mal kam schon nach einer Woche Arbeitszeit. Diesmal war sie länger krank. Ich hatte sogar mal wieder einen Kunden. Erst nach einem halben Monat öffnete das New Styles wieder. Elisa Willer war natürlich die erste Kundin. Von meinem Platz aus in meinem Salon sah ich sie weinen, sah, wie Marlene Steiners Gesicht eine neue Falte bekam. Als Elisa anderthalb Stunden später ging und ich sah, dass das New Styles ausnahmsweise mal komplett leer war, stand ich auf. Ich schlang mir meinen schweren Mantel um, es war inzwischen schon Herbst geworden, der in diesem Jahr ungewöhnlich früh hereingebrochen war, und schloss meinen Salon ab, nicht ohne vorher ein "Bin bald zurück!"-Schild auf die Innenseite meiner Glastür gehängt zu haben.
Hastigen Schrittes eilte ich über die Straße und betrat zum ersten Mal das New Styles. In der Überraschung, die in Marlene Steiners Gesicht bei meinem Anblick aufleuchtet, lag fast etwas von dem, was Marlene früher immer im Gesicht gehabt hatte. "Guten Tag", grüßte ich sie und meine Stimme war so eisig, dass es schien, als hätte der kalte Herbstwind, der draußen über die Straße wehte, mit mir gemeinsam das New Styles betreten. "Hallo, das ist ja ein erstaunlicher Besuch!" Marlene Steiner brachte ein schwaches Lächeln zustande. "Ich nehme an, Sie wollen sich Ihre Haare frisieren lassen?" Zu ihrer Verwunderung schüttelte ich den Kopf. "Nein, ich wollte nur mal ... Sie sagten, wer ein Problem hätte, könnte immer zu Ihnen kommen. Muss ich mir dazu die Haare frisieren lassen? So war das wohl in letzter Zeit, bei dem Kundenreichtum, unter dem Sie ja geradezu litten. Aber gerade jetzt ist der Laden ja leer - können wir uns da nicht einfach so hinsetzen und reden?" "Natürlich ... natürlich." Nervös strich Marlene Steiner sich eine Strähne hinter ihr Ohr. Sie war verunsichert, oh ja, das war sie! Ich genoss diese Momente, fühlte mich wie ein Raubtier, ganz alleine mit seiner Beute in einem engen Raum. Und das Raubtier zog Kreise. Kreise, die immer enger wurden. "Willst du ... wollen Sie etwas trinken? Einen Latte Machiatto?", bot Marlene Steiner mir an - bei diesen wahrscheinlich vertrauten Worten kräftigte sich ihre Stimme wieder, doch ich spielte mein Spiel weiter. "Ich würde einen Schwarztee bevorzugen", antwortete ich spitz. Zufrieden stellte ich fest, dass sie nicht einmal probierte, mich von einem Latte Machiatto zu überzeugen - Marlene Steiner hatte dazu gelernt und war geschwächt, man konnte nicht alle Menschen verändern. Mich hatte sie nicht verändert. Die einzige, die sich von uns verändert hatte, war sie. Als sie mir, zart gebaut und blass, das kochende Wasser mit dem Teebeutel hinstellte, kam sie mir vor wie eine schöne Malerei, von der die Farben bereits abblätterten. Wir saßen an dem Tisch, der am Schaufenster befestigt war und der Blick von hier war genauso schön, wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Nur die Atmosphäre, die herrschte, war eine ganz andere - dies hier war bestimmt kein Kaffeenachtmittag unter Freundinnen.
Marlene Steiner selbst hatte sich ein Wasser geholt. Als ihr Blick auf meinen Schwarztee fiel, stand sie noch einmal auf und holte Milch und Zucker. "Ich trinke meinen Schwarztee ohne Milch und Zucker", fuhr ich sie an. "Oh, das tut mir leid", murmelte Marlene Steiner. In ihren Augen las ich die Frage nach dem, was ich hier eigentlich tat, doch ich tat ihr nicht den Gefallen, dies sofort zu offenbaren. Marlene Steiners Finger spielten unruhig mit dem Wasserglas in ihren Händen, dann nahm sie jedoch meinen Blick auf. Er war stärker, als ich es erwartet hatte, doch immer noch schwach, so unendlich schwach im Gegensatz zu der ehemaligen Kraft in ihren Augen. "Sie möchten reden", nahm Marlene Steiner das Gespräch auf. "Ja, das möchte ich", bestätigte ich. Einen Moment lang blieb mein Blick an meinem eigenen Salon hängen. Das Rosa, in dem die Außenwand gestrichen war, war ausgeblichen, fast erinnerte es mich an ein Grau. Als ich weitersprach klang meine Stimme ganz anders, als noch wenige Augenblicke vorher - geschwächt, voll Kummer. "Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen", sagte ich mit dieser Stimme, "sie handelt von einer Frau. Diese Frau lebte lange, lange Zeit in einem Dorf und war sehr glücklich. Sie hatte einen Frisiersalon, der ihr einziges Einkommen war. Aber das Einkommen war genug und die Frau glaubte, er würde bis an ihr Lebensende reichen. Denn wenn nicht, würde sie irgendwie alt und verkümmert ohne Geld oder sonstige Besitztümer auf der Straße landen. Aber die Frau machte sich auch keine Sorge um ihren Laden, denn er lief ja gut und sie war glücklich. Doch eines Tages kam eine andere Frau in das Dorf, die jünger und hübscher war. Und obwohl ihr alle Möglichkeiten des Lebens offen standen, weil sie jung und hübsch und talentiert war, machte sie einen Friseurladen auf, können Sie sich das vorstellen? Und die andere Frau, die nicht so jung und hübsch und talentiert war, wurde immer einsamer, weil niemand mehr ihren Frisiersalon besuchte und auch finanziell stand es schlecht um sie. Und eines Tages musste der Salon schließen." Ich machte eine Kunstpause, sah, wie die Worte auf Marlene Steiner wirkten. "Wissen Sie, wie die Geschichte endet?", fuhr ich dann fort, "ich weiß es nicht. Vielleicht verbrachte die Frau den Rest ihres Lebens alleine in einer kleinen, unbeheizten Wohnung und landete schließlich auf der Straße. Oder man fand sie tot in ihrem Bett vor, eine Packung Schlaftabletten auf dem Nachtisch. Aber ich weiß es nicht. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie sich ein Ende für die Geschichte ausdenken könnten. Mich würde auch interessieren, was aus der jungen, hübschen, talentierten Frau wurde. Ob sie mit so einem Gewissen leben konnte." Der Schrecken, die Furcht, die Sorge, etwas Selbstzerstörendes - all das konnte ich in Marlene Steiners Gesicht lesen und ich saugte jedes Detail auf, um mich daran zu erfreuen. Mein Gesicht jedoch, darauf achtete ich, zeigte durch keine Regung meine wirklichen Gefühle. Ich stand auf und legte einige Münzen neben meine Tasse für den Schwarztee, von dem ich nicht einen Schluck getrunken hatte und verließ ohne ein Wort des Abschieds den Laden. Als ich die Straße überquerte und meinen Salon wieder aufschloss, blickte ich mich nicht einmal nach Marlene Steiner um. Das Raubtier hatte zugebissen, verbluten musste die Beute allein.
Am nächsten Tag hing ein Schild im Schaufenster des New Styles, das verkündete: "Vielen Dank, für die schönen Monate hier. Aus persönlichen Gründen habe ich mich dazu entschlossen, Kleindüppel trotzdem zu verlassen. Ich werde die Zeit hier nicht vergessen. Mit freundlichen Grüßen, Ihre Marlene Steiner" Das Häuschen war weitgehend leer geräumt, der Rest war zum Verkauf freigegeben. Eine Telefonnummer am Gartenzaun wies auf einen Immobilienmakler hin. Im Laden hatte Marlene Steiner alles unverändert gelassen, er war nur gemietet gewesen. Laut dem Mieter überwies Marlene Steiner die nächsten Monate noch Miete, obwohl der Laden ungenutzt blieb, aber mehr hörte man auch nicht von ihr. Sogar mein Schwarztee, unberührt, wie ich ihn zurückgelassen hatte, stand noch auf dem Tisch. Marlene Steiner war über Nacht verschwunden. Elisa Willer lief noch lange mit verheulten Augen herum, doch bald vergaß selbst sie Marlene Steiner. Ihre Haare wuchsen wieder nach. Jetzt ist wieder alles wie früher, so, wie es schon immer war und immer sein wird.