Alle wollten wissen, weshalb ich noch vor dem kleinen Eingriff das Krankenhaus fast fluchtartig verlassen hatte. Nun es gab eine Menge Gründe und die erzählte ich meinen Lieben auch bereitwillig. Ich sagte zum Beispiel, dass ich mich nicht wohl gefühlt hätte, oder dass man mich unverschämt lange habe warten lassen, dass ich während des Wartens beschlossen hätte, der Eingriff wäre absolut nicht nötig und so weiter. Ihnen aber, verehrte Leserschaft, werde ich nun verraten, was mir dort tatsächlich widerfahren ist. War es ein eindrücklicher Traum oder tatsächlich ein längst toter Freund, der mich vor einem schlimmen Schicksal bewahrt hat?
Am Mittwochmorgen traf ich im Spital ein. Alle waren sehr nett. In meinem Zimmer lagen noch drei weitere Frauen, zwei in meinem Alter und eine ältere Dame. Als ich meine Sachen ausräumte und verstaute, unterhielt ich mich mit zwei meiner Zimmergenossinnen. Der einen sollten noch am selben Tag die Mandeln entfernt werden. Sie war etwas nervös, ansonsten wirkte sie aber heiter, sogar vergnügt. Die ältere Dame wurde wegen eines kleinen Knotens am Hals zweimal pro Tag bestrahlt. Die dritte Patientin lag gerade auf dem OP; sie lernte ich dann am Abend kennen. Allerdings schlief sie die meiste Zeit. Ich musste an jenem Tag von einer Untersuchung zur anderen, verschiedene Ärzte sahen sich meinen Hals an, wirkten etwas ratlos, alle waren sie aber sehr freundlich. Zuletzt wurde ich noch in ein unterirdisches Gewölbe geführt, wo man eine Röntgenaufnahme von meinem Hals machte. Am Abend besuchte mich mein Mann, schließlich schaute noch die Narkoseschwester vorbei. Alles war bereit für den Eingriff am folgenden Morgen. Es wurde dunkel, die Nacht brach herein. Eine die ich niemals vergessen sollte.
Ich konnte trotz der Schlaftablette nicht einschlafen, also las ich noch ein wenig. Hin und wieder schaute ich aus dem Fenster, welches tagsüber einen hübschen Ausblick auf einen sanft geschwungenen Hügel und dichten Wald bot. Jetzt aber, in der Nacht, verschmolzen die Bäume zu einer düsteren undurchdringlichen Wand mit einem schwarzen, drohenden Himmel darüber. Meine Zimmergenossinnen schliefen fest und schnarchten, dass die Wände krachten. Irgendwann muss ich dann wohl eingenickt sein, denn ich schreckte plötzlich zusammen. Als ich die Augen öffnete, spürte ich mehr als das ich sie sah, eine Gestalt, die am Fußende meines Bettes stand. Erst dachte ich, es sei die junge Frau, deren Mandeln am Mittag entfernt worden waren, und die nun aufgewacht war und nicht wieder einschlafen konnte. Ich warf einen Blick auf die Digitalanzeige meiner Uhr. Sie zeigte zwei Uhr morgens an. Leise, um die beiden anderen Frauen nicht zu wecken, fragte ich: "Kannst du nicht mehr einschlafen?" Keine Antwort. Ich versuchte es noch einmal: "Wollen wir ein wenig reden?" Als sie wieder nicht antwortete, glaubte ich, dass sie schlafwandelte.
Behutsam, um sie nicht zu erschrecken, schlüpfte ich aus dem Bett, um die junge Frau wieder zurück zu ihrem Bett zu geleiten. Früher hatte ich das oft mit meiner Schwester getan, die häufig im Schlaf gesprochen und dabei im Zimmer herumgewandert war. Beim Aufstehen fiel mein Blick auf das Bett gegenüber und ich erstarrte. Das Bett war besetzt. Das Atmen fiel mir plötzlich schwer, und ganz langsam wie in Trance drehte ich meinen Kopf nach rechts, dort wo die Gestalt noch immer bewegungslos verharrte. Schwaches bläuliches Licht umgab den jungen Mann, ich fühlte den brennenden Blick seiner Augen. Ich wollte schreien, doch kein Laut kam über meine Lippen. Ich fühlte wie meine Beine zu zittern begannen, wollte weglaufen, doch ich stand wie erstarrt da. "Das ist ein Traum, ein böser, unheimlicher Traum", hallte es in meinem Kopf, "ich will aufwachen, oh bitte, lass mich aufwachen. Diese blöde Tablette, sie musste schuld sein an diesem grausigen Traum." - "Ich habe auf dich gewartet." Seine Stimme klang sanft und fern, so als würde er von sehr weit her mit mir sprechen. Ich hatte noch immer große Angst, doch nun erwachte auch meine Neugier, und ich sagte mir, dass dies ein Traum sei, aus dem ich sowieso bald erwachen würde. Also spielte ich mit. "Wer bist du? Ich kenne dich nicht." Noch während ich sprach, kam die Erkenntnis. Er sah nicht aus wie Luciano, er klang auch nicht wie er, und doch war er es. Die Angst verschwand, wurde abgelöst von tiefer Trauer, die mich sprachlos machte. Er war es, und er war zurückgekommen. Damals vor bald zwanzig Jahren war er gestorben, in diesem Krankenhaus, in das ich ihn zwei Tage vor seinem Tod begleitet hatte. Er war neunzehn, ich zwanzig. Wir hatten gelacht. Keinem von uns wäre es in den Sinn gekommen, dass wir uns nicht mehr wiedersehen würden. Und doch war es so. Es hatte Jahre gedauert, bis ich mit dem Verlust und dem Entsetzen umgehen konnte, der Schock saß so tief, dass ich glaubte, auch nicht weiterleben zu können. "Ich habe lange nicht mehr von dir geträumt", flüsterte ich, "warum jetzt?" In meine Trauer mischte sich nun auch der alte Zorn darüber, dass ich ihm nie hatte sagen können, wie gemein es von ihm gewesen war, mich allein zurückzulassen in dieser komplizierten Welt. Aber er sagte: "Wir sterben nie, keiner von uns geht wirklich weg." "Ach was, dann bist du also gestorben, um hier zu bleiben, ausgerechnet hier in einem Krankenhaus?" Meine Stimme muss wohl ein bisschen zu ironisch geklungen haben, denn sein Lächeln verschwand und ich spürte eine eisige Kälte von ihm ausgehen. "Du siehst nicht aus wie Luci", sagte ich trotzig. "Ich sehe nicht aus wie dein Luci von damals, weil sie den verbrannt haben. Du hast mich nie besucht auf dem Friedhof, warst auch nicht an der Beerdigung." Nun sollte ich also auch noch ein schlechtes Gewissen haben, nachdem er einfach abgehauen war. Wütend zischte ich: "Ich glaube nicht an Friedhöfe, und wie ich sehe, bist du dort auch nicht." Er verzog wieder das Gesicht zu diesem vertrauten, ausgelassenen Grinsen, das ich so an ihm gemocht hatte - damals, als die Welt noch in Ordnung gewesen war. "Ich muss dir sagen mein Gummibärchen, (so hatte er mich immer genannt), dass fast gar nichts von dem stimmt, was uns die Pfarrer erzählt haben. Das Einzige, was stimmt ist, dass wir nicht sterben, sondern ewig leben. Und das ist manchmal ganz schön langweilig. Weil ich hier gestorben bin, werde ich auch hier bleiben, so einfach ist das." Tja, also so hatte ich mir die Sache mit dem Leben danach auch nicht vorgestellt. Ich war einigermaßen ratlos und schwieg betreten. Doch er lachte wieder: "Mach dir nichts draus, so schlimm ist es gar nicht. Das Leben hier kann auch ganz schön aufregend sein." Er erzählte mir ein paar Müsterchen aus seiner Erfahrung als guter Spitalgeist. Während wir gemütlich plaudernd aus dem Zimmer schlenderten - ich durch die offene Tür, er durch die Wand daneben -, freute ich mich insgeheim darüber, einen so spannenden Traum zu träumen. Doch eines ließ mir keine Ruhe, wieso hatte Luci gewusst, dass ich hierher kommen würde.
Ich musste entweder laut gesprochen haben, oder aber, er konnte meine Gedanken lesen. Er wandte mir sein Gesicht zu. Das Lächeln war wieder daraus verschwunden. "Ja, ich wusste, dass du herkommen würdest. Wir Geister haben hier zwar viel Spaß und sorgen dafür, dass traurige Menschen lustige Träume und heitere Gedanken haben, aber manchmal werden wir auch geschickt, um neue Patienten zu warnen." "Na ein Glück, dass ich das alles nur träume", dachte ich bei mir, doch er fiel mir ins Wort bzw. in den Gedanken: "Hör zu, Gummibärchen. Bei unserer großen Sitzung, sie findet immer montags statt, werden uns die jeweiligen Wochenaufgaben zugeteilt. Die meisten Aufgaben sind Routine, ich muss trösten, Patienten aufheitern, zum Lachen bringen, hin und wieder auch eine etwas zu stramme Schwester ärgern. Wir erhalten eine Liste mit Namen, Station und Zimmernummer unserer Kunden." Wieder konnte ich mir eine Frotzelei nicht verkneifen: "Das geht bei euch Krankenhausgeistern also genau so bürokratisch zu wie im richtigen Leben." - "Ja, lach du nur, glaub mir, ich hab mir dieses Leben nach dem Tod auch ein wenig anders vorgestellt, aber so ist es nun mal. Also, auf meiner Liste für diese Woche stand dein Name. Zwar bist du inzwischen verheiratet, aber wenn wir einen Namen lesen, dann sehen wir auch die Person. - Nein, nein, kein Foto" - unterbrach er schon wieder meine Gedanken "ich meine, wenn ich den Namen lese, sehe ich auch automatisch das dazugehörige Gesicht." Ich glaube nun zu verstehen. "Also bist du hier, um mich aufzuheitern?" "Nein, nicht ganz. Ich will, dass du das Krankenhaus verlässt, gleich morgen früh. Lass dich auf keine Diskussionen ein, sonst kann ich dir auch nicht mehr helfen." Inzwischen war mir das Lachen gründlich vergangen. Was für ein ernster Traum das plötzlich wurde. Wieder unterbrach Luci mich: "Du glaubst immer noch zu träumen. Dann muss ich dir eben zeigen, weshalb du nicht hier bleiben darfst." Schweigend lief er mir ein paar Schritte voraus, und ich stellte erstaunt fest, dass seine Füße den Boden nicht berührten. Schließlich gelangten wir an eine merkwürdige kleine schwarze Tür, die so gar nicht in diesen Flur zu passen schien. Er forderte mich auf, die niedrige Türe zu öffnen. Ich betrat einen stockdunklen Flur und blieb dann verunsichert stehen. "Ich gehe voraus, damit du etwas sehen kannst", sagte Luci. Ich folgte also dem blauen Licht, das seine Gestalt umgab. Es war stickig und eng in dem langen Gang, das Atmen fiel mir schwerer und schwerer. Außerdem vernahm ich gequälte Laute, es war, als würden Menschen um mich herum schweben, traurige, weinende Menschen. Mein Hals schmerzte, ich konnte kaum noch schlucken. Und als ich mit der Hand über meinen Hals strich, bemerkte ich zu meinem Entsetzen, dass direkt unterhalb der Gurgel ein großes Loch klaffte. Ich wollte nach Luci rufen, ihn bitten, mich wieder zurück in mein Zimmer zu bringen, verfluchte diesen dummen, fürchterlichen Traum. Doch ich konnte nicht sprechen, nur ein Gurgeln entwich meiner offenen Kehle. Luci drehte sich um, lächelte mitleidig und sagte: "Ich hätte dir das gerne erspart, aber du wolltest mir nicht glauben. Es ist so, dein Eingriff ist eigentlich eine Routineangelegenheit, aber diesmal wird ein Fehler passieren. Du wirst zwar nicht sterben, aber glaub mir, das was danach folgen wird, kann man auch nicht als Leben bezeichnen. Du würdest für lange, lange Zeit im Koma liegen, gefangen in einem Körper, der ohne Maschinen nicht funktionieren kann. Du wirst nie mehr lachen, nie mehr sprechen, nie mehr träumen, nie mehr aufwachen, bis vielleicht endlich ein mitleidiger Mensch die Maschinen ausschaltet, um deine Seele zu befreien oder der Tod selber sich einschaltet. Was du hier in diesem grausigen Tunnel hörst, sind die Klagen derer, die ich dir nun zeigen werde. Schließ die Augen."
Ich tat wie Luci mich geheißen und fand mich in einem Saal mit vier Betten wieder. Die blassen Menschen, die darin lagen waren, hingen an Schläuchen, die wiederum mit blinkenden und piepsenden Apparaturen verbunden waren. Abgesehen von den Geräuschen der verschiedenen Maschinen, war es totenstill in dem Raum. Doch es war eine Stille voller Pein und Ruhelosigkeit. Plötzlich öffnete sich die Türe, es wurde gleißend hell im Zimmer und eine Nachtschwester erschien. Sie trat an das erste Bett heran, kontrollierte die Apparate, die Schläuche und warf abschließend einen mitleidigen Blick auf das Gesicht des regungslosen Patienten. Dann trat sie zum nächsten Bett, die Prozedur wiederholte sich. Ich stand am Ende der Bettenreihe. Als sie an mir vorbeihuschte, roch ich ihr dezentes Parfum. Sie konnte mich nicht sehen. Luci stand direkt neben dem Bett eines Kranken, legte seine Hand auf dessen Stirn und lächelte leise. Die Schwester konnte zwar auch ihn nicht sehen, doch als sie ihn im Vorbeigehen streifte, verharrte sie kurz. "Warum hast du am Bett des Mannes gelächelt", fragte ich Luci später, als wir wieder auf dem Weg in mein Zimmer waren. "Er wird erlöst, schon morgen. Ich habe es gesehen", antwortete er. "Das ist gut. Alles ist besser, als dieses schreckliche, hoffnungslose Dasein in dem düsteren langen Gang", seufzte ich erleichtert. "Dann glaubst du mir also?"