Jo strengte sich in den nächsten Tagen wirklich gehörig an, damit man ihr das Geheimnis nicht sofort an der Nasenspitze ansah. Doch Meg kannte ihre Schwester nur zu gut und bemerkte, dass diese etwas vor ihr verheimlichen wollten. Sie stellte keine bohrenden Fragen, sondern tat rundweg gleichgültig. Das war bei Jo die beste Vorgehensweise. Meist rückte sie irgendwann von selbst damit raus.
Amy war immer noch bei Tante March, und so blieb Jo nur Laurie, dem sie eigentlich erstmal aus dem Weg gehen wollte, da er sich in einen ebenso hartnäckigen wie findigen Detektiv verwandelte, wenn er ein Geheimnis nur von weitem witterte. Natürlich war es diesmal genauso. Er ließ Jo keine Ruhe, bis er herausfand, dass das Geheimnis irgendetwas mit Meg und Brooke zu tun hatte. Doch mehr bekam er nicht heraus und war beleidigt, weil Jo ihm offensichtlich nicht vertraute.
Meg hatte alle Hände voll im Haushalt zu tun. Mrs March war die meiste Zeit bei Betty und Jo erholte sich von der langen Krankenpflege. Doch plötzlich benahm sich Meg sehr seltsam. Sie erschrak, wenn man sie ansprach, wurde grundlos rot und starrte beim Nähen oft lange gedankenverloren aus dem Fenster.
"Sie hat alle Symptome!", berichtete Jo ihrer Mutter. "Was sollen wir nur machen?"
"Gar nichts. Lass sie in Ruhe. Mit Vaters Ankunft wird sich schon wieder alles beruhigen", antwortete Mrs March.
Also Jo am nächsten Tag das kleine Postamt in der Hecke leerte, war ein versiegelter Umschlag für Meg dabei. Sauerei! Meine Briefe versiegelt Laurie nie, dachte Jo und verteilte die Post an alle.
Auf einmal ließ ein kreischender Aufschrei von Meg alle zusammenfahren.
"Was ist los?", wollte Mrs March wissen.
"Er hat ihn gar nicht geschrieben! Jo, du Miststück! Wie konntest du mir das antun!" Meg verbarg ihr Gesicht in den Händen und wurde von Weinkrämpfen geschüttelt.
"Ich? Ich hab überhaupt nichts getan! Wovon redest du?", verteidigte sich Jo.
Meg zog wütend einen zweiten, zerknitterten Brief aus ihrer Rocktasche und schmiss ihn Jo vor die Füße. "Du hast ihn geschrieben und dieser Kerl von nebenan hat dir geholfen. Wie konntet ihr beide nur so gemein sein?"
Jo strich den Brief glatt und las vor:
Meine liebste Margaret, ich kann meine Leidenschaft nicht länger unterdrücken und muss mein Schicksal kennen, bevor ich von Washington zurückkehre. Ich traue mich nicht, deinen Eltern davon zu erzählen, doch ich denke sie werden zustimmen. Mr Laurence will mir helfen, eine gute Anstellung zu finden. Bitte sag deiner Familie noch nichts, sondern gib mir durch Laurie ein paar hoffnungsvolle Worte. Dein ergebener John.
"Oh dieser Schuft! Das hat er also gemeint, als er mir drohte, er würde sich dafür rächen, dass ich ihm mein Geheimnis nicht verrate!", schrie Jo wütend. "Den knöpfe ich mir vor!" Jo wollte auf der Stelle losstürmen, doch Mrs March hielt sie zurück.
"Stopp! Ich kenne dich und deine Streiche. Du steckst da doch sicher mit drin?"
"Ich schwöre, Mutter. Ich habe nichts damit zu tun. Wenn ich die Briefe geschrieben hätte, wären sie viel besser geworden." Mrs March glaubte ihr.
"Meg du hättest doch merken müssen, dass Mr Brooke niemals so einen Schwachsinn verzapfen würde!", meinte Jo.
"Es sah aus wie seine Handschrift…", stammelte Meg und starrte auf den Brief.
Dann erzählte sie leise, wie Laurie ihr den ersten Brief überreicht hatte. Er wirkte völlig unbeteiligt. Zuerst wollte sie ihrer Mutter sofort alles erzählen, doch dann entschied sie sich, das kleine Geheimnis noch ein paar Tage für sich zu behalten und Mr Brooke zu antworten.
Sie schrieb ihm, dass sie noch zu jung sei, um eine Entscheidung zu treffen. Außerdem wollte sie zuerst mit ihrem Vater sprechen. Sie dankte ihm für seinen Brief und bot ihm an eine gute Freundin zu sein. Mehr wollte sie im Moment nicht.
"Oje, ich kann ihm nie wieder in die Augen schauen", jammerte Meg.
Doch Mrs March und Jo waren über Megs Zeilen sehr erleichtert. "Und was steht nun in dem zweiten Brief?", wollte Jo wissen.
"Dieser Brief kling wirklich ganz anders. Sehr respektvoll und freundlich aber auch grauenhaft. Er schreibt, er hätte mir nie einen Liebesbrief geschickt, und es täte ihm Leid, dass sich meine freche Schwester in seinem Namen einen bösen Scherz erlaubt habe."
"Immer muss ich als Sündenbock herhalten", maulte Jo. "Ich knöpfe mir jetzt Laurie vor!"
"Nein! Ich will mit ihm reden. Das war ein wirklich bösartiger Streich", widersprach Mrs March scharf. "Geh rüber und hol ihn her."
Jo wollte gerade loseilen, als ihr etwas einfiel: "Ich bin mir sicher, Brooke hat deinen Brief nie bekommen, Meg." Sie schnappte sich noch einmal beide Briefe und verglich die Handschrift. "Laurie hat beide Briefe geschrieben. Er wollte mir eins auswischen. Der kann war erleben."
Während Jo unterwegs war, versuchte Mrs March, Meg behutsam die ganze Geschichte beizubringen, und berichtete ihr von Mr Brooks wahren Gefühlen. "Nun, was denkst du? Magst du John so gern, dass du auf ihn warte möchtest, bis er dir ein Heim bieten kann?"
"Ich habe mich so aufgeregt, dass ich im Moment überhaupt nicht weiß, was ich fühle. Von Verehrern habe ich erstmal die Nase voll!", schnaubte Meg. "Ich schäme mich so. Niemand darf von dieser Geschichte erfahren."
Da erschien Jo mit Laurie. Sie hatte ihren Freund nicht vorgewarnt, aber bei dem Gesicht von Mrs March ahnte er sofort, dass ihn eine gepfefferte Strafpredigt erwartete, und sah schuldbewusst zu Boden.
Meg floh bei Lauries Erscheinen sofort aus dem Zimmer und Mrs March schickte auch Jo nach draußen. Eine halbe Stunde tigerte sie auf dem Flur auf und ab, bis sich die Tür endlich wieder öffnete. Die Mädchen erfuhren nie, was in dem Raum gesprochen wurde, doch als sie gerufen wurden, sah Laurie so reumütig aus, dass Jo ihm beinahe verzieh.
Inständig bat er Meg um Verzeihung. "Ich schwöre, Brooke weiß von nichts und wird nie etwas davon erfahren. Ich gebe dir mein Ehrenwort. Ich werde alles tun, was du verlangst, um die Sache wieder gutzumachen! Bitte verzeih mir!"
"Ich versuche es. Aber der Streich war sehr geschmacklos und verletzend. Ich hätte nicht gedacht, dass du so etwas tun könntest", sagte Meg vorwurfsvoll. Doch schließlich verzieh sie ihm, weil sie nie jemandem lange böse sein konnte.
Jo hingegen drehte sich wortlos um und ging. Eigentlich hatte sie Laurie seine kleine Racheaktion zwar bereits vergeben, doch irgendetwas in ihr bestand darauf, ihn noch etwas auf die Folter zu spannen.