Das Gespräch mit Tante Polly bewirkte, dass Toms düstere Stimmung mit einem Schlag verschwand. Er fühlte sich so frei und unbeschwert, dass er sich auf dem Schulweg sogar bei Becky Thatcher entschuldigte. "Becky, es tut mir Leid. Ich habe mich heute Morgen wirklich unmöglich benommen. Wir wollen uns wieder vertragen, ja?"
Becky sah ihn zornig an. "Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mich in Zukunft nicht mehr belästigen würdest! Ich rede nie mehr mit dir!" Stolz ging sie weiter.
Tom war verblüfft und wünschte sich, Becky wäre ein Junge gewesen, dann hätte er sie so richtig vermöbeln können. Der Bruch zwischen ihnen schien unüberbrückbar.
Der Lehrer, Mr. Dobbins, ein Mann mittleren Alters, hatte sein Leben lang Arzt werden wollen. Doch da er das Studium nicht bezahlen konnte, hatte es nur bis zum Dorfschulmeister gereicht und sein Lebenstraum blieb unerfüllt. In seinem Pult verwahrte er ein geheimnisvolles Buch, in das er sich vertiefte, wenn er nicht gerade Unterricht halten musste. Er hütete das Buch wie einen kostbaren Schatz. Jeder in der Schule hätte liebend gerne mal hineingeschaut.
Als nun Becky die Klasse betrat, bemerkte sie, dass der Schlüssel am Pult steckte. Das war die Gelegenheit! Sie sah sich um und im nächsten Moment hielt sie das Buch in Händen. Anatomie von Professor Soundso, sagte ihr nichts. Sie begann zu blättern. Gleich auf einer der ersten Seiten war eine farbige, schön gezeichnete Darstellung eines nackten menschlichen Körpers. Just in dem Moment ertappte Tom sie dabei. Hastig wollte Becky das Buch zuklappen, dabei riss sie versehentlich die Seite bis zur Hälfte ein. Schnell warf sie das Buch zurück in das Pult, drehte den Schlüssel um und brach von Scham in Tränen aus. Dann beschuldigte sie Tom, er hätte sich angeschlichen. Er wehrte sich. Aber Becky tat ihm fast ein wenig Leid in ihrer Verzweiflung. Sie rief: "Du Ekel, ich hasse dich! Was soll ich jetzt bloß tun. Bestimmt bekomme ich Schläge dafür … ich habe noch nie Schläge in der Schule bekommen!"
Tom stand verblüfft da. Mädchen waren schon komisch. Was war denn schon dabei. Pah, noch nie Schläge in der Schule gekriegt!, sagte er zu sich selbst. Als würde er sie bei dem alten Dobbins verpetzen. Das war nicht nötig. Der hatte seine eigene Taktik. Becky wird sicher nicht um die Prügel herumkommen. Nachdenklich fügte er hinzu: Soll sie es doch ausbaden! Und dann lief er zu den anderen Jungen auf den Schulhof.
Kurz darauf begann der Unterricht. Es dauerte mehr als eine Stunde, bis Mr. Dobbins das Pult öffnete. Nachdem er eine Weile zerstreut mit den Buchseiten spielte, lehnte er sich in seinem Sessel zurück um zu lesen.
Tom blickte zu Becky, die hilflos aussah. Der Streit mit ihr war vergessen, da musste etwas geschehen. Der Lehrer öffnete den Band. Dann blickte er auf und die Drohung in seinen Augen war mehr als deutlich. Es herrschte atemlose Stille.
Der Schulmeister brüllte mit seinem ganzen Zorn: "Wer hat dieses Buch zerrissen?"
Kein Laut war zu hören. Erst forschte Mr. Dobbins in jedem Gesicht nach Zeichen der Schuld. Dann fragte er jedes Kind einzeln und blickte ihm drohend in die Augen. Als er bei Becky Thatcher stand, fragte er erneut: "Hast du dieses Buch zerrissen?" Becky saß leichenblass auf ihrem Stuhl. Da wusste Tom, wie er ihr helfen konnte. Er sprang auf und rief: "Ich war es!"
Sprachlos sahen seine Mitschüler ihn an. Tom sammelte noch kurz seine Kräfte, bevor er seine Strafe abholte. Dann ließ er die Schläge, die härtesten, die Mr. Dobbins je einem Schüler verpasst hatte, ohne einen einzigen Schmerzenslaut über sich ergehen. Die Überraschung, die Dankbarkeit und Bewunderung, die ihm aus Beckys Augen entgegenleuchteten, ließen ihn selbst die zusätzliche Strafe, nach Schulschluss noch zwei Stunden nachzusitzen, mit Gleichmut hinnehmen. Er wusste ja, dass Becky auf ihn wartete!
Am Abend war Tom mit sich und der Welt endlich mal wieder zufrieden. Beim Einschlafen noch hörte er Beckys Stimme: "Tom, dass du so edelmütig sein konntest!"