Sid und Tom wurden gegen halb zehn ins Bett geschickt. Wie jeden Abend sprachen sie das Nachtgebet. Kurz darauf schlief Sid tief und fest. Tom blieb wach, voller Ungeduld. Noch eine Stunde lang musste er reglos im Bett liegen. Er durfte keinesfalls Sid wecken. Tom hörte die Balken knacken, das Ticken der Uhr, das Knarren der Stiege. Ganz offensichtlich waren wieder Geister unterwegs!
Tante Polly schnarchte gleichmäßig. Jetzt hörte er das Zirpen einer Grille und am Kopfende seines Bettes ertönte das Grauen erregende Ticktack einer Totenuhr - ein sicheres Zeichen, dass heute jemand sterben musste. Tom schauderte. Doch schließlich schlief er gegen seinen Willen ein. Durch seine tiefen Träume mischte sich das traurige Gejammer eines Katers; erst das Klirren einer leeren Flasche gegen den Holzschuppen schreckte ihn auf. Eine Minute später stand er vor Huckleberry Finn, der mit seiner toten Katze beim Holzschuppen wartete.
Nach einer halben Stunde schlichen sie über den Hügel des alten Friedhofs. Gras und Unkraut überwucherten Gräber und Wege. Grabsteine gab es hier nicht. Wurmstichige, schwere, oben abgerundete Bretter schwankten im Wind hin und her. Die Aufschrift konnte man nicht mal mehr bei Tageslicht lesen.
Die beiden Jungen sprachen kaum. Der leise Wind ächzte in den Bäumen, so dass der unheimliche Ort sie sehr bedrückte. Bald fanden sie den frischen Grabhügel, und sie versteckten sich nur wenige Schritte davon entfernt, hinter drei großen Ulmen. Toms Angst steigerte sich mehr und mehr. Um sich Mut zu machen, begann er ein Gespräch.
"Du, Hucky, glaubst du, die Toten haben was dagegen, dass wir hier sind?"
"Das wüsste ich selber gern", erwiderte Huck. "Furchtbar feierlich hier, was?"
"Meinst du, Hoss Williams kann uns hören?" fragte Tom und packte seinen Freund am Arm.
"Klar hört er uns, oder wenigstens sein Geist!"
Die Unterhaltung geriet ins Stocken. Plötzlich zischte Tom: "Psst!"
"Mein Gott, Tom, sie kommen! Jetzt kommen sie! Was sollen wir tun?"
"Keine Ahnung… Meinst du, sie sehen uns?"
"Klar! Die können im Dunkeln sehen wie die Katzen. Ach, wäre ich bloß nicht hergekommen!"
"Ach was! Wir machen ja nichts Böses. Wenn wir stillhalten, dann bemerken sie uns vielleicht gar nicht." Zitternd saßen die Jungen beieinander und hielten die Köpfe zusammen. Ihre Kehlen waren wie zugeschnürt und ihre Herzen klopften zum Zerspringen. Aus der Dunkelheit tauchten drei Gestalten auf.
Huckleberry schauderte. "Es sind Teufel!" flüsterte er zähneklappernd. "Drei Stück auf einmal. Mein Gott, Tom, kannst du beten?"
"Ich versuche es. Aber ich glaube nicht, dass sie uns was tun. Lieber Gott, mach mich fromm, dass…", begann Tom zu beten.
"Psst!" flüsterte Huck. "Es sind Menschen. Ich hab die Stimme vom alten Muff Potter erkannt. Er ist besoffen, der alte Penner!"
"Jetzt halten sie an! Sie suchen etwas. Weißt du was, Huck, die zweite Stimme gehört Indianer-Joe."
"Das Halbblut? Da hätte ich es ja noch lieber mit echten Teufeln zu tun! Was die hier wohl suchen?"
Als die drei Männer die Grabstelle von Hoss Williams erreicht hatten, hörten die Jungen auf zu flüstern. Dann erkannten sie in dem dritten Mann das Gesicht von Doktor Robinson.
Potter und Indianer-Joe zogen eine Karre, auf dem ein Strick und ein paar Schaufeln lagen. Sie begannen, das Grab zu öffnen. Der Doktor stellte die Laterne ab und lehnte sich mit dem Rücken an die Ulmen, dass die beiden Jungen ihn hätten berühren können.
"Beeilt euch. Der Mond kann jeden Moment herauskommen!" sagte der Doktor leise.
Schon wenig später hatten die beiden Männer den Sarg nach oben gehoben, stemmten mit ihren Spaten den Deckel auf und holten die Leiche heraus. In diesem Moment trat der Mond hinter den Wolken hervor und beleuchtete die gespenstische Szene. Sein bleiches Licht fiel genau auf den toten Hoss.
Potter und Indianer-Joe banden die Leiche auf den Karren und deckten sie mit einem Tuch zu. Potter schnitt mit seinem Klappmesser den Strick ab. Zum Doktor gewandt, brummte er: "So, das wäre geschafft, Knochensäger. Wenn du nicht willst, dass die Leiche hier liegen bleibt, dann rück noch einen Fünfer raus!"
"Genau", bestätigte Indianer-Joe.
Der Doktor sah die beiden erstaunt an. Sie hatten ihren Lohn doch schon im Voraus erhalten. Er erhob sich beunruhigt, während Indianer-Joe sich dem Arzt drohend näherte.
"Es ist schon fünf Jahre her, als ich eines Nachts bei euch um Essen gefragt habe. Du hast mich fortgejagt wie einen räudigen Hund. Als ich schwor, dass ich mit dir abrechnen würde, da hat mich dein Vater ins Gefängnis werfen lassen. Glaubst du im Ernst, ich hätte das vergessen?" Indianer-Joe hielt dem Doktor die Faust vors Gesicht, doch dieser schlug zu und streckte den Angreifer blitzschnell zu Boden.
Überrascht eilte Potter zu Hilfe, stürzte sich auf den Doktor und die beiden kämpften verbissen miteinander. Inzwischen hatte sich Indianer-Joe von dem Schlag erholt, packte Potters Messer und mischte sich wieder ein. Rachlüstig umkreiste er die Kämpfenden, auf der Lauer nach einer günstigen Gelegenheit. Plötzlich riss sich der Doktor los, packte das schwere hölzerne Namensbrett von Williams Grab und ließ es auf Potters Kopf niedersausen. Potter ging zu Boden.
Auf diese Gelegenheit hatte Indianer-Joe gewartet. Er stieß dem jungen Arzt das Messer in die Brust. Der Doktor taumelte und fiel auf den am Boden liegenden Potter. Aus seiner Wunde quoll Blut.
Im selben Moment schob sich eine Wolke vor den Mond und verbarg das grausame Schauspiel. Die beiden Jungen nutzten die Gelegenheit und jagten davon.
Als wenig später der Mond wieder aus den Wolken trat, beugte sich Indianer-Joe über die beiden leblosen Körper. Der Doktor stöhnte, seufzte mehrmals tief auf und war dann still. "Das war die Rache!", zischte Indianer-Joe und raubte die Leiche aus. Dann legte er das Mordwerkzeug in Potters geöffnete Hand, setzte sich auf den Sarg und wartete.
Nach einigen Minuten kam Potter laut stöhnend zu sich. Mühsam schob er die Leiche des Doktors von sich, setzte sich auf und sah sich verwirrt um. "Was ist denn passiert, Joe?"
"Eine dumme Geschichte", erwiderte dieser ausdruckslos. "Warum hast du das bloß gemacht?"
Potter zitterte und wurde kreidebleich. "Sag, Joe. Habe ich das wirklich getan?"
Dann erzählte Indianer-Joe von dem Kampf. "… dann bist du wieder hoch und hast ihm das Messer in die Brust gestoßen, gerade als er dir einen weiteren Schlag mit dem Holz verpasste. Und dann hast du hier gelegen. Wie tot!"
"Ich habe noch nie mit einer Waffe gekämpft. Da ist der Whiskey schuld und die Aufregung… Joe, du darfst mich nicht verraten! Versprich mir das, alter Kumpel!" flehte Potter verzweifelt.
"Ich verpfeife dich nicht, Muff Potter. Du hast dich immer ehrlich und anständig benommen. Aber mehr kannst du von mir nicht verlangen."
"Joe, du bist ein Engel! Das werde ich dir nie vergessen!" Potter begann zu schluchzen.
"Zum Flennen ist jetzt keine Zeit", murrte Indianer-Joe. "Mach dass du fortkommst. Nimm den Weg da drüben, ich gehe hier rum. Hinterlass keine Spuren!"
Potter rannte los, so schneller konnte. Indianer-Joe sah ihm nach und murmelte: "Der ist so benebelt, dass er sein Messer total vergessen hat. Und nachher traut er sich nicht mehr alleine zurück, der Feigling!"
Wenige Minuten später beleuchtete der Mond den unheimlichen Schauplatz. Es herrschte wieder Totenstille auf dem Friedhof.