Tom bemühte sich wirklich, am Unterricht teilzunehmen. Doch seine Gedanken schweiften immer wieder ab. Mit einem Seufzer gab er den Kampf auf und gähnte herzhaft. Die Zeit bis zur Mittagspause schien ihm endlos. Das einschläfernde Gemurmel der fünfundzwanzig Schüler hatte dieselbe Wirkung wie das Summen von Bienen.
Tom sehnte sich danach, endlich nach draußen zu gehen. Er musste sich etwas gegen die Langeweile einfallen lassen. Mit der Hand kramte er in seiner Hosentasche. Verstohlen zog er die kleine Schachtel heraus. Vorsichtig setzte er die Zecke auf das lange Pult. Sie genoss ihre neu gewonnene Freiheit und versuchte sofort davon zu krabbeln. Bis Tom sie mit einer Nadel herum schob und sie zwang, die Richtung zu ändern.
Joe Harper, Toms Banknachbar und Busenfreund, langweilte sich ebenso. Dankbar zog er ebenfalls eine Nadel heraus und beteiligte sich an dem unterhaltsamen Spiel. Sie ließen den Gefangenen hin und her marschieren. Sie legten Joes Tafel auf das Pult und zogen einen Strich in der Mitte. Tom sagte: "Solange sie auf deiner Seite ist, lasse ich sie in Ruhe. Aber wenn sie auf meine Seite krabbelt, dann lässt du sie in Ruhe, bis ich sie nicht mehr davon abhalten kann, die Grenzlinie zu überqueren."
"Okay, lass sie los!"
Die Zecke entfloh ihrem Besitzer und kreuzte schon bald die Linie. Joe quälte sie eine Weile, dann eilte sie zurück. So wechselte sie immer wieder das Feld. Die Jungen verfolgten interessiert das Geschehen und hatten ihre Umgebung dabei völlig vergessen. Die Zecke war vermutlich genau so aufgeregt wie die Jungen selbst und versuchte verzweifelt zu entkommen. Endlich hielt Tom es nicht mehr aus und er fuhr mit seiner Nadel über die Trennlinie.
"Finger weg!" schimpfte Joe wütend.
"Ich will sie ja nur ein bisschen schubsen", erwiderte Tom. Und sie begannen sich zu zanken, wem das Tier nun eigentlich gehöre. Bis ein gewaltiger Schlag Toms Schulter traf. Und ein Zwillingsbruder dieses Hiebes sauste auf Joes Schulter nieder. Die beiden Jungen hatten nicht bemerkt, wie es plötzlich in der Klasse mucksmäuschenstill wurde, als der Lehrer auf Zehenspitzen durchs Klassenzimmer geschlichen war. Er hatte ihnen sogar noch eine Weile zugesehen, bevor er auf seine Weise Abwechslung in das Spiel brachte.
Endlich kam die Mittagspause. Tom flüsterte Becky Thatcher zu: "Setz deine Mütze auf und tu so, als wenn du nach Hause gehst. Wenn du vorn an der Ecke bist, läufst du den andern davon und kommst zurück. Ich gehe den anderen Weg und wir treffen uns hier."
Als die beiden wieder beim Schulhaus ankamen, waren alle anderen weg. Sie legten eine Tafel vor sich aufs Pult und Tom gab Becky seinen Griffel. Er führt ihre Hand, bis ein bemerkenswertes Haus gezeichnet war. Dann erlahmte das Interesse an der Kunst und sie begannen sich zu unterhalten. Tom fühlte sich wie im siebten Himmel.
"Magst du Ratten?", erkundigte er sich.
"Nein, weder tot noch lebendig", erwiderte Becky. "Aber weißt du, was ich mag? Kaugummi!"
"Ich auch. Ich wünschte, ich hätte einen."
"Ich hab einen. Willst du mal ein wenig kauen? Du musst ihn mir aber wieder zurückgeben!"
So kam es, dass sie mit baumelnden Beinen auf dem Tisch saßen und abwechselnd denselben Kaugummi kauten. Sie unterhielten sich noch über dies und das. Bis Tom plötzlich fragte: "Sag mal, Becky, warst du schon mal verlobt?"
"Was ist denn das?"
"Na, das macht man, bevor man heiratet."
"Wie macht man denn das?"
"Ganz einfach. Du musst einem Jungen versprechen, dass du nie einen anderen willst, für immer und ewig. Dann küsst ihr euch und das ist schon alles."
"Küssen? Warum denn küssen?"
"Ja, weil… na, das machen alle so!"
"Wirklich alle?"
"Ja, eben alle, die ineinander verliebt sind. Weißt du noch, was ich dir auf die Tafel geschrieben habe?"
Becky zierte sich noch ein wenig. Aber Tom flüsterte ihr ganz leise ins Ohr, was er am Morgen bereits auf die Tafel geschrieben hatte und legte sanft den Arm um sie. "Und jetzt du", fügte er hinzu.
"Du darfst aber nicht hersehen und du darfst es auch niemandem verraten, Tom. Keiner Menschenseele." Dann beugte sich Becky zu ihm herüber und flüsterte: "Ich liebe dich." Nun sprang sie schnell auf und rannte um die Schulbänke herum in eine Ecke des Klassenzimmers. Ihr verlegenes Gesicht versteckte sie hinter ihrer weißen Schürze.
Tom war ihr gefolgt. "Es ist schon fast vorbei. Jetzt kommt nur noch der Kuss. Davor brauchst du dich nicht zu fürchten. Das ist ein Klacks." Vorsichtig zog er an der Schürze.
Ganz langsam ließ Becky die Hände sinken. Ihre Wangen glühten. Tom küsste sie mitten auf den Mund.
"Siehst du, Becky. Jetzt ist es vorbei. Von jetzt an darfst du nur noch mich lieben und du darfst auch keinen anderen heiraten. Niemals. Willst du?"
"Sicher! Ich werde nur dich lieben, Tom, und keinen anderen heiraten - aber du auch nicht!"
"Klar! Und auf dem Schulweg gehst du jetzt immer mit mir und beim Spielen wählst du immer mich und ich dich. So macht man das nämlich, wenn man verlobt ist."
"Das gefällt mir. Das hab ich nicht gewusst."
"Ja, das macht Spaß. Als Amy Lawrence und ich…"
Tom erkannte an Beckys riesigen Augen, dass er einen Fehler gemacht hatte. Betreten hielt er inne. Becky schluchzte. "Dann bin ich ja gar nicht die Erste, mit der du dich verlobst!"
"Wein doch nicht, Becky. Ich mach mir doch schon lange nichts mehr aus ihr", sagte Tom. Doch als er einen Versuch machte, seinen Arm um Becky zu legen, stieß sie ihn zurück. Sie drehte sich zur Wand und der Tränenstrom floss unentwegt weiter. Tom versuchte mit besänftigenden Worten, sie zu trösten. Aber ohne Erfolg.
Er drehte sich um und ging nach draußen. Unruhig marschierte er auf und ab, immer in der Hoffnung, dass Becky ihr Verhalten bereuen und ihn suchen würde. Doch sie kam nicht. In der Erkenntnis, dass vielleicht doch er einen Fehler gemacht hatte, ging er nochmals zurück ins Klassenzimmer. Becky stand immer noch schluchzend in der Ecke.
"Becky, ich liebe wirklich nur dich", sagte er leise. Doch seine Angebetete schluchzte nur. "Becky, so sag doch was", bat er sie inständig. Daraufhin flossen noch mehr Tränen. Tom holte seinen kostbarsten Schatz hervor - einen Messingknopf, der von der Spitze eines Kamingitters stammte. "Nimm das, Becky, willst du?"
Sie schlug ihm den Knopf aus der Hand.
Tom verließ das Schulhaus und ging fort, mit der festen Absicht, zum Nachmittagsunterricht nicht zu erscheinen. Sehr bald begann Becky ihn zu vermissen. Doch so sehr sie auch suchte und rief, von Tom war weit und breit nichts zu sehen. Voller Selbstvorwürfe setzte sie sich hin und begann wieder zu weinen. Doch schon trafen die ersten Schüler ein. Jetzt musste sie ihren tiefen Kummer verbergen und den langen, öden Nachmittag über sich ergehen lassen. Und sie hatte niemanden, dem sie hätte ihr Herz ausschütten können.