Bagheera und Baloo machten sich auf den Weg zu Kaa. Obwohl er nicht zu ihrem Stamm gehörte, keine Füße hat und sehr bösartige Augen, wollten sie die Schlange um Hilfe bitten.
Sie fanden ihn auf einem warmen Steinsims, ausgestreckt in der Mittagssonne. Er bewunderte gerade seine neue Haut, denn er hatte sich in den letzten zehn Tagen zurückgezogen, um die Haut zu wechseln. So erstrahlte Kaas Haut in neuer Pracht. Er glitt mit seinem dicken, stumpfnasigen Kopf über den Boden. Seinen dreißig Fuß langen Leib drehte und wendete er zu fantastischen Knoten und Kurven. In Gedanken an sein künftiges Abendbrot leckte er sich die Lippen.
"Er hat noch nicht gegessen", sagte Baloo erleichtert, sobald er das braun und gelb gefleckte Gewand sah. Allerdings durfte man Kaa nicht hetzen. Sie schlenderten wie zufällig auf ihn zu. Kaa fragte nach, ob er unterwegs etwa Wild oder einen jungen Bock gesichtet hatte. "Ich bin so leer wie ein ausgetrockneter Baum", begehrte Kaa auf.
Baloo erwiderte lässig, dass sie auf der Jagd seien. Da schloss sich Kaa den beiden an. Sie tauschten ihre jüngsten Erlebnisse aus. Kaa erzählte, dass er bei seiner letzten Jagd von den Bandar-Iog mit schlimmen Ausdrücken beschimpft worden war. Bagheera bestätigte, dass sie über Kaa als den fußlosen gelben Regenwurm sprachen; manchmal noch schlimmere Wörter. Aber Baloo und Bagheera würden sich selbstverständlich nicht darum kümmern. Sie plauderten noch eine Weile belangloses Zeug; bis Baloo endlich zugab, dass sie die Bandar-Iog verfolgen würden.
Kaa platzte vor Neugier. Da erzählten der Bär und der Panther, dass diese Nussdiebe und Palmblattpflücker ihnen ihr Menschenjunges gestohlen hatten.
Kaa hatte natürlich von den Wölfen und dem Menschenjungen gehört. Und als Baloo und Bagheera ihn darauf aufmerksam machten, dass die Affen besonders vor ihm, Kaa, Angst hätten, machte das die Schlange stolz.
Bagheera betonte noch einmal, wie respektlos das Affenvolk über die mächtige Schlange redete. "Wurm, Wurm, Regenwurm … das und noch andere Sachen, die ich gar nicht laut aussprechen kann, sagen die über dich!"
Trotzdem weigerte sich Kaa, das Affenvolk oder gar diesen Frosch zu jagen. Während sie berieten, wie sie Mowgli helfen konnten, flog Chil der Geier über sie hinweg. Endlich hatte er Baloo gefunden und konnte ihm erzählen, was er beobachtet hatte. Die Bandar-Iog hatten das Menschenjunge über den Fluss in die Affenstadt - zur Kalten Lagerstatt mitgenommen. Wie lange sie dort bleiben würden, das wusste niemand. Mit einem "Gute Jagd euch allen da unten!" verabschiedete sich Chil.
Bagheera versprach ihm noch einen Teil seiner nächsten Beute, dem besten aller Geier! Baloo und Bagheera waren stolz auf ihren Mowgli, weil er sich in dieser gefährlichen Situation an das Meisterwort für die Vögel erinnert hatte. Sie machten sich auf zu der Kalten Lagerstatt.
Nur wenige Dschungelleute sind jemals dorthin gegangen. Denn die Kalte Lagerstatt war eine alte verlassene Stadt, vom Dschungel verschlungen und wilde Tiere nutzten nur selten einen Ort, den einst Menschen benutzt haben. Es war eine halbe Nachtreise entfernt.
Baloo musste bereits nach kurzer Zeit zurückbleiben, Bagheera und die Schlange waren ihm zu schnell. Sie beschlossen, dass er nachkommen sollte. Und Bagheera staunte nicht schlecht, wie schnell Kaa sich fortbewegte, und das ohne Füße. "Langsam bist du wahrhaftig nicht", sage Bagheera, als das Zwielicht hereinbrach.
Währenddessen dachten in der Kalten Lagerstatt die Affen überhaupt nicht an Mowglis Freunde. Sie waren ungeheuer stolz auf sich. Mowgli, der zuvor noch nie eine indische Stadt gesehen hatte, war beeindruckt. Obwohl es nur ein Haufen Ruinen war, erschien es ihm wunderbar und prächtig.
Die Affen nannten den Ort ihre Stadt und gaben vor, das Dschungelvolk zu verachten, weil es im Walde hauste. Trotzdem hatten sie keine Ahnung, wozu diese Gebäude gedacht waren. Sie lausten sich auf dem Fußboden des königlichen Ratssaales und versuchten so zu tun, als ob sie Menschen wären. Sie rannten durch die Hausruinen, sammelten Mörtelbrocken und alte Backsteine in einem Winkel, vergaßen aber gleich wieder, wo sie sie versteckt hatten. Irgendwann am Tag stritten sie sich alle, kreischten, für wie klug und weise sie sich selber hielten. Dann wurden sie der Stadt überdrüssig, sie kehrten in die Baumwipfel zurück und hofften auf die Aufmerksamkeit des Dschungelvolkes. Dann begann alles von vorn.
Mowgli konnte diese Art zu leben weder verstehen noch gutheißen. Am Nachmittag schleppten ihn die Affen zur Kalten Lagerstatt. Dort fassten sie sich an den Händen, sangen alberne Lieder und tanzten herum. Sie feierten die Gefangennahme Mowglis als einen neuen Abschnitt in der Geschichte der Bandar-Iog.
Mowgli erkannte schnell, dass er an einen schlimmen Ort geraten war. Alles, was Baloo über die Affen erzählt hatte, stimmte. Er dachte, sie haben kein Gesetz, keinen Jagdruf und keine Führer. Nichts als dummes Geschwätz und kleine diebische Pfoten. Ich muss versuchen, in meinen eigenen Dschungel zurückzufinden. Lieber lasse ich mich von Baloo verdreschen, als mit den Bandar-Iog lächerliche Rosenblätter zu jagen.
Doch sein Versuch, das Affenlager zu verlassen, schlug fehl. Sie sperrten ihn ein. Während er durch die Gitterstäbe das Affenleben beobachtete, dachte er, dass der Schakal diese Bandar-log gebissen haben musste. Ja, das ist ganz bestimmt clewanee, der Wahnsinn. Jetzt zieht gerade eine Wolke auf. Wenn sie den Mond verhängt, dann könnte ich vielleicht versuchen, in der Dunkelheit zu fliehen.
Genau dasselbe beobachteten Kaa und Bagheera vom zerfallenen Stadtgraben aus. Fast ohne einen Laut war der schwarze Panther den Hang hinaufgejagt. Doch sein Befreiungsversuch schlug fehl. Die Bandar-Iog brachten Mowgli in Sicherheit und als sie merkten, dass der Panther alleine war, erkannten sie ihre Chance. Zum ersten Mal seit seiner Geburt musste Bagheera um sein Leben kämpfen.
Währenddessen hatte Baloo das Affenlager erreicht. Als er hörte, wie Mowgli den Panther zu den Wasserreservoiren schickte, rief er: "Bagheera, ich bin da!" Dann mischte er sich in den Kampf ein. Er pflanzte sich dabei felsenfest auf seine Hinterbacken, breitete die Vorderpfoten weit aus, presste so viele Affen an sich, wie er fassen konnte, und begann, mit gleichmäßigem "Klatsch-Klatsch-Klatsch" Hiebe auszuteilen. Es klang wie die schnellen Schläge eines Schaufelrades.
Kaa hatte sich gerade jetzt erst über die westliche Mauer gequält. Er war mit einer solchen Wucht aufgekommen, dass ein Stück der Mauerabdeckung abbrach und im Graben landete. Während er sich vergewisserte, dass sein langer Leib in bester Arbeitsverfassung war, wogte der Kampf um Baloo weiter. Bagheera war am Wasserreservoir von kreischenden Affen umgeben. In seiner Verzweiflung stieß er den Schlangenruf aus: "Wir sind eines Blutes, du und ich!" Mowgli musste kichern, ob der Tatsache, dass der gefährliche schwarze Bagheera um Hilfe rief. Und Mang, die Fledermaus, flatterte hin und her und trug die Nachrichten von der großen Schlacht über den ganzen Dschungel.
Dann kam Kaa, blitzschnell und bereit zum Töten. Die Kampfkraft einer vier oder fünf Fuß langen Python kann einen Mann umwerfen. Und Kaa war, wie ihr wisst, dreißig Fuß lang. Sein erster Stoß ins Herz der Menge um Baloo geschah mit geschlossenem Munde und in tiefer Stille. Ein Zweiter war nicht mehr nötig. Die Affen stoben auseinander und schrien: "Kaa! Das ist Kaa! Lauft! Lauft!"
Generationen von Affen waren von ihren Eltern mit Schauergeschichten über Kaa zum Gehorsam gebracht worden. Kaa war der Inbegriff dessen, was die Affen im Dschungel fürchteten.
Baloo stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Der Kampf hatte seinem dicken Fell schwer zugesetzt. Da öffnete Kaa zum ersten Mal den Mund und sagte ein langes zischendes Wort. Daraufhin blieben die Affen bis in die hintersten Winkel zusammengekauert hocken. Bagheera schüttelte seine nassen Flanken, während er aus der Zisterne stieg. Mowgli zappelte vor Ungeduld, das Gesicht ans Gitterwerk gepresst. Bagheera keuchte: "Lasst uns schnell Mowgli aus dieser Falle rausholen und dann nichts wie weg. Bevor sie uns noch einmal angreifen!"
"Sie werden sich nicht rühren, bis ich es zulasse. Bleibt ssso auf der Sssstelle!", zischte Kaa. "Ich konnte nicht eher kommen Bruder, aber ich meine, ich hörte dich rufen." Damit meinte er Bagheera.
"Na ja, ich mag im Kampfe aufgeschrieen haben", antwortete Bagheera kleinlaut.
Nachdem sie Mowgli befreit hatten, drückte Baloo seinen Schützling sanft an sich. Doch Bagheera grüßte ihn mit strengerem Tonfall. Er machte Mowgli darauf aufmerksam, dass Kaa der wahre Held dieser Schlacht war. "Danke ihm, wie es bei uns Brauch ist", verlangte er.
Mowgli entledigte sich seines Dankes recht brav. Der Python senkte sein Haupt ganz leicht eine Minute lang auf Mowglis Schulter. "Ein tapferes Herz und eine mutige Zunge werden dich im Dschungel weit bringen, Menschenkind. Aber jetzt lauf rasch mit deinen Freunden davon. Geh und schlaf. Ich meine, dass du das Folgende nicht sehen solltest."
Zu Beginn sahen Baloo, Bagheera und Mowgli aber doch noch zu, wie Kaa ihre Kreise zog. Was Mowgli für albern hielt, war in Wirklichkeit eine wahre Kunst. Kaa hypnotisierte die Affen und sie tanzten dann, ohne dass sie es spürten, nach seiner Pfeife.
Dann hielten Baloo und Bagheera dem Menschenjungen noch eine ordentliche Standpauke. Mowgli sah den Schaden ein, den er angerichtet hatte und fragte, was denn das Gesetz des Dschungels dafür vorsah. Baloo murmelte: "Reue schützt nicht vor Strafe. Aber denk daran, Bagheera, er ist sehr klein."
Mowgli, der seinen Leichtsinn bereute, entschuldigte sich bei den beiden. Bagheera gab ihm ein halbes Dutzend liebevoller Knüffe. Sie hätten wahrscheinlich nicht mal ausgereicht, ein Pantherbaby aus dem Schlaf zu wecken. Aber für einen Siebenjährigen liefen sie auf eine so tüchtige Tracht Prügel hinaus, um die man schon lieber herumgekommen wäre. Als es vorüber war, schniefte Mowgli und rappelte sich wortlos auf.
Bagheera nahm ihn auf seinen Rücken, damit sie endlich heimgehen konnten.
Das Schöne am Dschungelgesetz ist, dass die Strafe alles löscht. Es ist, als wäre nie etwas passiert. Mowgli legte seinen Kopf auf Bagheeras Rücken und schlief so tief, dass er nicht einmal bemerkte, als er in der Höhle neben Mutter Wolf gebettet wurde.