Man stelle sich einen kleinen, hageren, dürren Alten vor, mit einem schwarzen Samtrock bekleidet, der um seine Hüften mit einer dicken Seidenschnur zusammengehalten wurde. Ein gleichfalls schwarzes Samtkäppchen rahmte streng seine Stirn und ließ zu beiden Seiten des Gesichts lange weiße Haarsträhnen herabfließen. Das Gewand umhüllte den Körper wie ein großes Leichentuch und ließ von der menschlichen Gestalt nichts sehen als das schmale blasse Antlitz. Ohne den fleischlosen Arm, der einem mit Stoff bekleideten Stock ähnelte und den der Greis emporhielt, um den vollen Strahl seiner Lampe auf den jungen Mann zu richten, hätte man meinen können, das Gesicht hinge in der Luft. Ein grauer Spitzbart verbarg das Kinn jenes eigenartigen Wesens und ließ es jenen jüdischen Köpfen gleichen, die den Künstlern als Modell für die Darstellung des Moses dienen. Die Lippen waren so farblos, so schmal, daß man genau hinsehen mußte, um in dem gleichen Gesicht die Linie des Mundes zu entdecken. Die hohe, gefurchte Stirn, die hohlen, fahlen Wangen, die unerbittliche Strenge seiner kleinen grünen Augen ohne Wimpern und Augenbrauen konnten den Unbekannten glauben machen, daß der ›Goldwäger‹ von Gérard Dou aus seinem Rahmen gestiegen sei. Der Scharfsinn eines Inquisitors prägte sich in den Krümmungen seiner Runzeln, den kreisförmigen Falten seiner Schläfen aus und ließ auf ein tiefes Wissen um die Dinge des Lebens schließen. Es war unmöglich, diesen Menschen zu betrügen, der die Gabe zu besitzen schien, die verborgensten Gedanken in den Herzen der Menschen zu lesen. Auf seinem kalten Gesicht waren die Sitten aller Nationen des Erdballs und ihre Weisheit vereinigt, so wie in seinem staubigen Laden die Produkte der ganzen Welt angehäuft waren. Man konnte darin die klare Ruhe eines Gottes lesen, der alles sieht, oder die stolze Kraft eines Menschen, der alles gesehen hat. Ein Maler hätte mit zwei Pinselstrichen zwei grundverschiedene Ausdrücke treffen und aus diesem Antlitz ein schönes Bild des Ewigen Vaters oder die grinsende Maske des Mephistopheles schaffen können, denn eng beieinander fanden sich erhabene Hoheit auf der Stirn und schneidender Hohn um den Mund. Dieser Mann mußte, indem er mit einer gewaltigen Kraft alles menschliche Leiden unterdrückte, auch alle irdischen Freuden getötet haben. Der zum Sterben Entschlossene schauderte, da er ahnte, daß dieser bejahrte Greis in einer der Welt fremden Sphäre daheim war, wo er allein lebte, ohne Freuden, weil er keine Illusionen mehr hatte, ohne Kummer, weil er keine Freude mehr kannte. Der Alte stand unbeweglich, unerschütterlich wie ein Stern in einer lichten Wolke. Seine grünen Augen voll einer sonderbaren sanften Bosheit schienen die geistige Welt zu erhellen wie seine Lampe dieses geheimnisvolle Kabinett.
Dies war das eigenartige Schauspiel, das den jungen Mann überraschte, als er die Augen aufschlug, nachdem er von phantastischen Bildern und Todesgedanken eingeschläfert worden war. Wenn er wie betäubt verharrte, wenn er sich einen Augenblick lang von einem Glauben beherrschen ließ wie Kinder von Ammenmärchen, so muß man dies der durch seine Meditationen hervorgerufenen Umnebelung seiner Sinne und seines ansonsten klaren Urteilsvermögens, der Überreiztheit seiner Nerven und der Heftigkeit der inneren Vorgänge zuschreiben, die ihn wie in einem Opiumrausch in gräßliche Wonnen getaucht hatten. Diese Vision fand statt in Paris, auf dem Quai Voltaire, im 19. Jahrhundert, zu einer Zeit und an einem Ort, wo Hexerei unmöglich war. Als Nachbar des Hauses, wo der Gott des französischen Unglaubens sein Leben ausgehaucht hatte, als Schüler von Gay-Lussac [Fußnote] und Arago, [Fußnote] als Verächter der Taschenspielerkünste, deren sich die Mächtigen bedienen, erlag der Unbekannte wohl nur jenen poetischen Faszinationen, denen wir uns oft hingeben, wie um einer trostlosen Wirklichkeit zu entfliehen oder um Gott zu versuchen. So war es das unerklärliche Ahnen einer fremdartigen Macht, das ihn vor diesem Licht und diesem Greis erzittern ließ; aber dieses Gefühl glich jenem, das wir alle vor Napoleon oder in Gegenwart eines großen, geistvollen und berühmten Mannes empfunden haben.