»Aber ist er denn wirklich ein solcher Schurke?«
»Ja, das ist er, mein Vater«, sagte sie und sank weinend auf einen Stuhl. »Ich wollte es dir nicht gestehen, um dir den Kummer zu ersparen, mich mit einem derartigen Menschen verheiratet zu sehen. Seine geheimen Laster und sein Gewissen, Seele und Körper, alles paßt zueinander! Es ist schrecklich, ich hasse ihn und verachte ihn. Ja, ich kann diesen gemeinen Nücingen nach allem, was er mir gesagt hat, nicht mehr achten. Ein Mensch, der imstande ist, sich in Geschäfte einzulassen, wie er sie mir eingestanden hat, hat nicht das geringste Gefühl mehr, und meine Befürchtungen kommen daher, daß ich deutlich in seiner Seele gelesen habe. Er hat mir, er, mein Gatte, mit klaren Worten meine Freiheit angeboten. Weißt du, was das heißt? Aber nur für den Fall, daß ich ein Instrument in seiner Hand bleibe, daß ich meinen Namen hergebe.«
»Aber es gibt noch Gesetze! Es gibt einen Richtplatz für Schwiegersöhne dieser Sorte!« rief Vater Goriot. »Ich könnte ihn selbst guillotinieren, wenn kein Henker da wäre.«
»Nein, mein Vater, es gibt keine Gesetze gegen ihn. Höre in zwei Worten ohne Floskeln, was er sagte: ›Entweder es ist alles verloren, und Sie haben nicht einen Heller, Sie sind ruiniert – denn ich würde mir keinen anderen Spießgesellen aussuchen –, oder Sie lassen mich meine Unternehmung zu Ende führen.‹ Ist das deutlich? Er hängt noch an mir. Es beruhigt ihn, daß ich eine anständige Frau bin; er weiß, daß ich ihm sein Vermögen lasse und mich mit dem meinigen begnügen werde. Ich muß einem betrügerischen Unternehmen zustimmen, wenn ich nicht ruiniert sein will. Er kauft mein Gewissen und bezahlt es, indem er mich die Frau Eugens sein läßt. Ich erlaube dir, deine Sünden zu begehen, laß mich meine Verbrechen begehen und kleine Leute ruinieren. Das ist doch deutlich! Weißt du, worin seine sogenannten Operatio
nen bestehen? Er kauft Grundstücke auf seinen Namen und läßt dann durch Strohmänner Häuser bauen. Diese Kerle bezahlen ihre Bauunternehmer mit langfristigen Wechseln und treten ihre Ansprüche gegen eine geringe Summe an meinen Gatten ab, der so Besitzer der Häuser wird, während die Strohmänner betrügerischen Bankrott machen. Der Glanz des Hauses Nücingen hat so dazu gedient, die armen Unternehmer zu blenden. Ich habe das wohl verstanden. Ich habe auch verstanden, daß Nücingen, um für den Notfall große Zahlungen nachweisen zu können, beträchtliche Summen nach Amsterdam, London, Neapel und Wien gesandt hat. Wie könnten wir dieses Geld fassen?«
Eugen hörte ein Geräusch, das offenbar davon herrührte, daß Vater Goriot auf dem Boden des Zimmers in die Knie sank.
»Mein Gott, was habe ich dir getan? Meine Tochter diesem Elenden ausgeliefert, der alles von ihr verlangen wird, wenn er will! Verzeihe mir, meine Tochter!« rief der Greis.
»Ja, ich bin in einem Abgrund, und vielleicht bist du schuld daran«, sagte Delphine. »Wir haben so wenig Verstand, wenn wir heiraten! Kennen wir die Welt, die Geschäfte, die Menschen, die Sitten? Die Väter müßten für uns denken. Lieber Vater, ich werfe dir nichts vor, verzeihe mir dieses Wort! Die Schuld liegt ganz bei mir. Nein, weine nicht, Papa«, sagte sie, die Stirn ihres Vaters küssend.