Brief von Fräulein Mina Murray an Fräulein Lucy Westenraa
9. Mai - Liebe Lucy! Vergib mir, das ich in der letzten Zeit mit dem Briefeschreiben im Rückstand blieb, ich habe viel Arbeit, wie das bei Schulassistenten so üblich ist. Ich sehne mich danach, bei dir zu sein und nach der See. Ich habe viel gearbeitet in der letzten Zeit und auch fleißig das Stenografieren geübt. Du weißt, dass ich mich bei Jonathans Studien nützlich machen will und wenn wir verheiratet sind, kann ich sein Diktat aufnehmen und es mit der Schreibmaschine abschreiben. Jonathan und ich schreiben uns oft Briefe im Stenogramm und ich weiß, dass er sogar ein solches Tagebuch über seine Reisen führt. So ein Tagebuch will ich auch führen, sobald ich bei dir bin. Eines, in das ich hineinschreiben kann, wann immer ich Lust habe und das ich Jonathan zeigen kann, falls etwas Mitteilungswürdiges darinnen steht. Vor allem soll es ein Übungsbuch für mich sein. Ich habe einen Brief von Jonathan aus Transsylvanien erhalten. Es geht ihm gut und er wird in einer Woche die Rückreise antreten. Ich freue mich so sehr, ihn wieder zu sehen! Oh, es schlägt zehn. Gute Nacht. Stets deine Mina.
PS. Wenn du mir schreibst, musst du mir vieles erzählen. Ich hörte da Gerüchte über dich und einen hübschen, großen kraushaarigen Mann?
Brief von Fräulein Lucy Westenraa an Fräulein Mina Murray
17. Chatham-Street, Mittwoch Liebste Mina! Ich weiß nicht, was ich dir erzählen soll, denn hier ist nichts geschehen, was dich interessieren könnte. Wir vertreiben uns die Zeit mit Spaziergängen und Ritten im Park oder wir besuchen die Gemäldegalerien. Von dem großen, kraushaarigen Mann vermute ich, dass du den meinst, der auf der letzten Unterhaltung bei mir saß. Das ist her Holmwood und irgendjemand hat dir da wohl einen Bären aufgebunden. Herr Holmwood ist öfter bei uns, denn er und Mama verstehen sich gut.
Dann trafen wir vor einiger Zeit einen Herren, der etwas für dich wäre, wenn du nicht schon an Jonathan gebunden wärst. Er ist wirklich eine glänzende Partie; hübsch in vornehmen Verhältnissen und aus guter Familie. Er ist erst neunundzwanzig Jahre und leitet schon eine ausgedehnte Irrenanstalt. Wie du dir denken kannst, ist er Arzt. Er ist ein energischer, aber sehr ruhiger Mann. Er wirkt völlig unerschütterlich, was in seinem Berufe wohl auch sehr wichtig ist. Er sieht einem ins Gesicht als wolle er die Gedanken lesen, aber ich bin eine harte Nuss für ihn, oder - wie er sagt ein schwieriges psychologisches Problem. Ach Mina, wir haben von klein auf alle Geheimnisse geteilt und nun muss ich dir auch eines verraten. Arthur - Herr Holmwood - ich hab ihn lieb. Ich schäme mich, das zu schreiben, auch wenn ich sicher glaube, dass auch er mich liebt. Ich hab ihn so lieb, Mina, so lieb. Nun ist mir wohl. Ich wünschte, du wärest hier. Eigentlich sollte ich den Brief zerreißen, aber ich sehne mich danach, dir alles zu sagen. Nun muss ich schließen. Erzähle niemandem davon und bete für mein Glück! Lucy
Brief von Fräulein Lucy Westenraa an Fräulein Mina Murray
Liebste Mina! Tausend Dank für deinen Brief. Ich bin so froh, dass ich dir alles erzählte und nun weiß, dass du mir zustimmst. Hier bin ich, die im September zwanzig werden soll und noch keinen Heiratantrag hatte und heute kamen gleich drei! Was sagst du dazu? Drei Anträge! Ich muss dir von allen erzählen! Von dem ersten erzählte ich dir schon: Es ist Dr. John Seward, der Arzt mit der Irrenanstalt. Äußerlich war er sehr kühl und er sprach sehr ernst mit mir. Aber er setzte sich fast auf seinen Zylinder und das tun Männer doch eher selten. Er sagte, dass er mich lieb gewonnen hätte, aber als ich zu weinen begann, fragte er, ob ich einem anderen gehöre. Da musste ich ihm natürlich sagen, dass ich einem anderen gehöre. Er stand auf, sah ernst und schwermütig drein und wünschte mir alles Glück der Welt. Ich musste wieder weinen, denn einen wackren Mann mit gebrochenem Herzen von dir schicken zu müssen, ist wahrlich nicht leicht.
Nummer Zwei kam nach dem Lunch. Er ist Texaner und sieht jung und frisch aus. Sein Name ist Quincey P. Morris und als er mich allein fand, ergriff er meine Hand und schüttete einen ganzen Gießbach von Liebesbeteuerungen über mich und legte mir Herz und Seele zu Füßen. Dann aber hielt er inne, weil er wohl etwas in meinen Gesicht gesehen hatte. Er fragte: "Lucy, ich weiß, dass Sie ehrlich sind. Sagen Sie mir die Wahrheit wie ein Kamerad dem anderen. Haben Sie schon einen lieb? Dann will ich Sie nicht länger belästigen." Ach Mina, warum sind Männer so edel, auch wenn man es gar nicht verdient? Ich brach wieder in Tränen aus und sagte: "Ja, ich liebe einen, obgleich er mir bis heute nicht gesagt hat, dass er mich liebt." Quincey P. Morris war sehr traurig. So traurig, dass ich mich zu ihm hinüber beugte und ihn küsste, Da stand er auf, verabschiedete sich und ging.
Und Nummer drei - du willst doch wohl noch von Nummer drei hören? - nun, Nummer drei legte seinen Arm um mich, kaum dass er in das Zimmer getreten war. Er küsste mich. Ich bin sehr glücklich, weiß ich doch gar nicht, womit ich das verdient habe. Ich bin Gott dankbar dafür, dass er mir in seiner Güte einen solchen Freund, einen solchen Liebhaber und einen solchen Gatten bescherte. Lucy
Dr. Seward Diarium - Fonografisch aufgenommen
22. April - Seit meiner gestrigen Enttäuschung leide ich an mangelndem Appetit und habe ein Gefühl der Leere. Nichts in der Welt scheint mir noch Bedeutung zu haben. Die einzige Kur für solche Zustände ist Arbeit, deshalb ging ich hinunter zu meinen Patienten. Ich habe da einen, der für mich eine Studie höchsten Interesses bildet, da er so wunderlich in seinen Ideen und doch so verschieden von den anderen Irren ist. Ich habe mich zu dem versuch entschlossen, in seine Ideen einzudringen. Und heute hatte ich das Gefühl, als sei ich seinem Geheimnis direkt auf der Spur. Ich befragte ihn genauer als ich sonst tue, da ich seine Halluzinationen zu beherrschen wünsche.
Sein Name ist R.M. Renfield. Er ist 59 Jahre alt und besitzt ein sanguinisches Temperament. Er ist stark, krankhaft reizbar und leidet an Perioden von Wahnsinn auf der Basis einer fixen Idee. Ich kann diese Idee nicht finden. Was macht ihn wahnsinnig? Sein Temperament löst zusammen mit störenden äußeren Einflüssen seelisch erschöpfende Anfälle aus. Herr Renfield ist wahrscheinlich gefährlich, wenn sein Dämmerzustand eintritt. Ich denke, dass, wenn sein Selbstbewusstsein im Mittelpunkt steht, die zentrifugalen und die zentripetalen Kräfte sich die Waage halten. Wird aber dieser Mittelpunkt aus irgendeinem Grund verschoben, so kann nur ein Anfall oder eine Reihe von Anfällen das Gleichgewicht wieder herstellen.
Brief von Quincey Morris an Herrn Arthur Holmwood
25. Mai. - Lieber Arthur! Wir haben schon am Lagerfeuer der Prärien gesessen, uns Geschichten erzählt und unsere Wunden verbunden. Nun gilt es andere Geschichten zu erzählen und andere Wunden zu verbinden und auf dein Wohl zu trinken. Wollen wir das nicht an meinem Lagerfeuer morgen Abend besorgen? Ich lade dich ein, da ich weiß, dass eine gewisse Dame zum Diner eingeladen ist und du frei bist. Und noch einer wird mit von der Partie sein - unser alter Spießgeselle aus Korea, Jack Seward. Er wird kommen und unsere tränen werden sich über dem Weinglase mischen, wenn wir auf dein Glück anstoßen. Wir versprechen dir ein herzliches Willkommen und schwören, dass wir dich nach Hause schicken, wenn du, einem Paar schöner Augen zu Ehren, zu tief ins Glas geschaut hast. Also komm! Dein auf immer Quincey P. Morris
Telegramm von Arthur Holmwood an Quincey P. Morris
26. Mai. Rechne auf jeden Fall mit mir. Ich bringe Neuigkeiten, mit denen ihr nicht rechnet. Arthur.