Jonathan Harkers Tagebuch
3. Mai. Bistritz - Von München fuhr ich über Wien und Budapest nach Klausenburg. Ich wohnte im Hotel Royal. Zum Diner oder vielmehr zum Souper aß ich ein sehr schmackhaftes aber Durst erzeugendes Paprikahendl. Ich schlief nicht gut, was vielleicht an dem Hendl lag; ich trank zwar alles Wasser in meiner Karaffe, war aber immer noch durstig. Als ich gegen Morgen endlich doch einschlief, klopfte es laut an meiner Tür. Die Nacht war um! Zum Frühstuck aß ich wiederum Paprika - in einer Suppe aus Maismehl.
Ich war unterwegs nach Transsylvanien. Genauer gesagt sollte ich nach Bistritz reisen, einem Distrikt im äußersten Osten des Landes. Die Grenzen der Staaten Transsylvanien, Moldau und Bukowina treffen sich dort inmitten der Karpaten. Die genaue Lage des Schlosses Dracula, zu dem ich unterwegs war, konnte ich allerdings nicht ermitteln.
Nachdem ich meine Suppe rasch hinunter geschlungen hatte, eilte ich zum Bahnhof. Ich hätte in Ruhe frühstücken können, denn mein Zug hatte fast eine Stunde Verspätung. Als die Reise weiterging, rollte der Zug den ganzen Tag durch eine sehr reizvolle Landschaft. Ich hatte Gelegenheit, sowohl die Landschaft als auch die Bevölkerung zu betrachten. Auf jeder Station sah man Einheimische in fremd anmutenden Trachten. Als wir in Bistritz ankamen, war die Dämmerung bereits hereingebrochen. Die Stadt liegt hart an der Grenze. Der Borgopass führt von hier aus in die Bukowina und Bistritz hat eine stürmische Vergangenheit hinter sich. Zu Beginn des 17. Jahrhundert wurde die Stadt drei Wochen belagert. Sie verlor 13 000 Einwohner durch Gefechte, Seuchen und Hungersnöte.
Auf Empfehlung des Grafen Dracula übernachtete ich im Hotel Goldene Krone. Der Wirt händigte mir einen Brief des Grafen aus:
"Mein Freund! Ich heiße Sie in den Karpaten willkommen und erwarte Sie mit Ungeduld. Ich habe für Sie einen Platz in der Postkutsche nach Bukowina reserviert. Die Kutsche geht um drei Uhr morgens. Mein Wagen wird am Borgopass auf Sie warten und Sie zu mir bringen. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise und dass Sie sich während Ihres Aufenthaltes meiner herrlichen Heimat freuen mögen.
Ihr Freund Dracula!"
4. Mai. Die Wirtsleute waren sehr höflich und zuvorkommend. Als ich sie allerdings über Details ausfragen wollte, wurden sie zurückhaltend und gaben vor, nicht genug zu verstehen. Als ich den Wirt fragte, ob er den Grafen Dracula kenne oder mir etwas über das Schloss berichten könne, bekreuzigten sich beide ängstlich. Die Wirtin fragte mich beinahe hysterisch, ob ich wirklich zum Grafen Dracula gehen müsse. "Wissen Sie denn nicht, was heute für ein Tag ist?", fragte sie mich. "Es ist die St. Georgsnacht! Wenn die Uhr Mitternacht schlägt, haben alle bösen Dinge auf der Welt freien Lauf. Wissen Sie denn, wohin Sie gehen und zu wem?"
Die Wirtin warf sich zu Boden und flehte mich an, zu bleiben. Es war lächerlich und doch fühlte ich mich unbehaglich. Ich wusste aber, dass nichts mich davon abhalten durfte, meinen Geschäften nach zu gehen. Ich versuchte, die Wirtin zu beruhigen und sie aufzuheben. Schließlich stand sie auf, trocknete ihre Tränen und nahm das Kruzifix von ihrem Halse, um es mir umzuhängen. "Um ihrer Mutter willen!", sagte sie, als sie mir den Rosenkranz umlegte. Ich muss zugeben, dass ich mich nicht mehr so zuversichtlich fühlte. Sollte dieses Tagebuch meine Mina vor mir erreichen, möge es ihr meine Abschiedsgrüße übermitteln. Die Kutsche kommt!
Ich begab mich zur Postkutsche während der Postillion mit der Wirtin sprach. Das Gespräch drehte sich um mich. Auch andere Leute, die auf der Bank vor dem Haus gesessen hatte, lauschten dem Gespräch und sahen mitleidig zu mir herüber. Ich hörte, dass einige Wörter sich wiederholten und schlug sie darum in meinem Polyglott-Wörterbuch nach. Es waren Wörter wie "Ordog = Satan", "Pokol - Hölle", "Stregoica = Hexe" und "vrolok" oder "vlkoslak = Werwolf oder Vampir". Als wir abfuhren, machten die Menschen, die dem Gespräch beigewohnt hatten, das Kreuzzeichen und streckten zwei gespreizte Finger gegen mich aus. Nur mit Mühe erfuhr ich von einem Mitreisenden, dass dies ein Zauber oder ein Schutz gegen den bösen Blick darstellen sollte.
Der Fuhrmann trieb seine Pferde an und die Fahrt begann. Ein letztes Mal blickte ich auf den malerischen Wirtsgarten und auf die reichen Oleander und Orangenbäume. Wir fuhren zunächst durch die üppigen grünen Hügel des Mittellandes. Je länger die Fahrt aber dauerte, umso schroffer wurde die Landschaft. Auch die Fahrgäste wurden unruhig. Als es dunkel wurde, spornte der Fuhrmann seine Pferde noch mehr an. Auch die Erregung der Mitreisenden steigerte sich immer mehr. Als wir den Borgopass erreichten, bekam ich kleine Geschenke zugesteckt. Sie wurden mir mit einem Ernst aufgedrängt, dass ich sie einfach nicht ablehnen konnte, auch wenn es wirklich seltsame Dinge waren.
Wir kamen zur östlichen Passöffnung, die Stelle, an der Draculas Wagen auf mich warten sollte. Es war weit und breit nichts zu sehen. "Sie werden wohl doch nicht erwartet", rief mir der Kutscher zu. "Dann nehme ich Sie jetzt mit bis nach Bukowina und Sie kehren übermorgen wieder zurück." Noch bevor ich antworten konnte, fuhr eine Kalesche mit vier Pferden von hinten an uns heran. Die Pferde waren kohlschwarz und im Lampenschein funkelten die Augen des fremden Kutschers rot. "Du bist zu früh!", donnerte der Fremde. "Du wolltest den englischen Herren wohl mit nach Bukowina nehmen. Aber ich weiß viel und meine Rosse sind schnell." Ich hatte Zeit, den hoch gewachsenen Mann zu betrachten. Sein Mund war grausam, mit sehr roten Lippen und scharfen, elfenbeinweißen Zähnen. "Die Toten reisen schnell!" flüsterte einer meiner Reisegefährten, schlug das Kreuz und spreizte die Finger. Mein Gepäck wurde umgeladen und ich stieg in die fremde Kutsche. Wortlos wendete der fremde Kutscher den Wagen und wir fuhren in die Dunkelheit.
Mich überlief ein eisiger Schauer und ich fühlte mich plötzlich sehr verlassen. Wir fuhren sehr rasch. Ich sah auf meine Uhr. Nur noch wenige Minuten bis Mitternacht. Ein Hund begann zu heulen, die lang gezogenen traurigen Töne hallten schauerlich durch die Nacht. Ein weiterer Hund antwortete und so setzte es sich fort, bis überall ein wildes Heulen vernehmbar war. Die Pferde scheuten und schwitzten, der Kutscher hatte alle Mühe, sie zu halten. Nun begann auf den Bergen zu beiden Seiten der Straße ein lauteres, helleres Gebell. Wölfe! Am liebsten wäre ich aus dem Wagen gesprungen. Der Kutscher hatte die Pferde beruhigt, so dass die Fahrt weitergehen konnte. Es wurde immer kälter, das Geheul der Wölfe klang immer lauter und die Pferde schienen meine Furcht zu teilen. Plötzlich tauchte eine blaue flackernde Flamme aus dem Dunkel auf. Der Kutscher hielt die Pferde an, sprang ab und verschwand in der Dunkelheit. Ich war verzweifelt, denn das Geheul der Wölfe kam immer näher. Im nächsten Augenblick war der Kutscher wieder da und ließ die Pferde antreten. Dieser Zwischenfall wiederholte sich ungezählte Male. Ich muss aber geschlafen oder geträumt haben, denn als der Kutscher einmal zwischen mir und der blauen Flamme stand, verdeckte er diese keineswegs, ich konnte sie vielmehr gespenstisch weiter flackern sehen. Ich war entsetzt, hielt es aber doch für eine Sinnestäuschung. Dann verschwanden die blauen Lichter rasch und wir sausten wieder durch die Nacht.
Einmal entfernte sich der Kutscher sehr weit von der Kutsche. Die Pferde begannen zu wiehern und las ich aus dem Fenster der Kutsche blickte, fuhr ich erschreckt zurück. Im fahlen Licht des Mondes erblickte ich Wölfe, die einen Ring um die Kutsche gebildet hatten. Sie fletschten ihre weißen Zähne. Zunächst war ich vor Angst wie gelähmt. Dann rief ich nach dem Kutscher. Ich rief um Hilfe und trommelte mit den Händen gegen den Wagenschlag. Was der Kutscher tat, weiß ich nicht. Dann hörte ich ihn scharfe Befehle rufen und schaute noch einmal aus dem Fenster. Der Kutscher stand auf dem Weg und schwenkte seine Arme. Die Wölfe wichen langsam zurück und dann schob sich eine Wolke vor den Mond. Wir standen im Finstern. Der Kutscher kletterte auf den Kutschbock. Die Wölfe waren verschwunden. Diese Erlebnisse waren so seltsam und ungewöhnlich, dass mich eine große Furcht überkam. Die Fahrt setzten wir in völliger Dunkelheit fort, es ging steil bergauf. Plötzlich bemerkte ich, dass die Kutsche in den großen Hof eines ruinenhaften Gebäudes eingefahren war. Aus den schwarzen Fensterhöhlen drang kein Lichtstrahl. Die Kutsche hielt an und der Kutscher war mir beim Aussteigen behilflich. Er nahm meine Koffer und stellte sie neben mich. Als alles ausgeladen war, schwang er sich auf den Kutschbock und verschwand mit Pferden und Wagen in einem der schwarzen Torbogen. Ich war allein.