Mina Murrays Tagebuch - Fortsetzung
11. August. 3 Uhr morgens. Nun sitze ich schon wieder über meinem Tagebuch, aber ich bin viel zu aufgeregt, um schlafen zu können. Wir haben ein Abenteuer erlebt und ich bin froh, dass wir es heil überstanden haben, denn es hat mir einen tödlichen Schrecken eingejagt.
Kurz nachdem ich vorhin Tagebuch geschrieben hatte, schlief ich ein. Als ich erwachte, war es sehr dunkel im Zimmer und ich fühlte eine seltsame Leere. Ich tastete mich zu Lucy hinüber und entdeckte, dass ihr Bett leer war. Ich machte das Licht an und sah, dass Lucy aus unserem Zimmer verschwunden war. Die Zimmertür, die ich abends vorsorglich verschlossen hatte, war zwar zu, aber nicht mehr verriegelt. Ich wollte Lucys Mutter nicht beunruhigen. Die Arme ist am Herzen leidend und es geht ihr zur Zeit wieder schlechter, so dass ich sie nicht aufregen wollte. Ein schneller Blick ließ mich feststellen, dass alle Kleider und auch der Schlafrock im Zimmer lagen. Im Nachthemd konnte sie also nicht weit gekommen sein.
Ohne lange nachzudenken, ergriff ich einen warmen Schal und rannte los. Im Haus konnte ich sie nicht finden, aber das Haustor stand offen. Ich musste befürchten, dass Lucy fort gegangen war. Als ich in The Crescent ankam, schlug die Glocke gerade eins. Es war keine Menschenseele auf der Straße und ich fand auch keine Spur von Lucy. Ich konnte vom Rande der Westklippe quer über den Hafen zur Ostklippe blicken - hoffte ich doch, Lucy auf unserem Lieblingsplatz zu entdecken. Wir hatten Vollmond aber auch dicke Wolken. Eine Weile konnte ich überhaupt nichts sehen. Dann riss der Himmel auf und ich sah die Kirche mit ihrem Friedhof. Und auf unserem Lieblingsplatz lehnte eine schneeweiße Gestalt. Die nächste Wolke verhüllt den Himmel wieder, so dass ich nicht genau sagen konnte, ob ich gesehen hatte, dass etwas Dunkles hinter der weißen Gestalt stand und sich zu ihr herunter beugte oder ob meine überreizten Sinne mich getäuscht hatten.
Es war mir egal. Ich flog die steilen Treppen hinab und eilte zur Brücke, dem einzigen Weg, auf dem die Ostklippe von hier aus zu erreichen war. Ich war froh, dass die Stadt wie tot dalag. So würde niemand von Lucys Leiden erfahren. Der Weg zur Ostklippe erschien mir unendlich lang und ich rang nach Atem als ich mit zitternden Knien die Stufen zur Abtei hinauf eilte. Fast war ich auf der Höhe angelangt, als ich die weiße Gestalt auf unserem Lieblingsplatz trotz der Dunkelheit gut erkennen konnte. Es war Lucy und irgendjemand - oder irgendetwas - beugte sich dunkel und schmal zu ihr herunter. Der Schreck fuhr mir in alle Glieder und entsetzt rief ich "Lucy! Lucy!". Das Etwas hob den Kopf und wandte mir ein Gesicht zu, bei dem mein Entsetzen nur noch größer wurde. Es war leichblass und hatte rot glühende Augen.
Ich rannte zur Kirchhofstür und verlor Lucy und das grausige Etwas für einen Moment aus den Augen. Als ich sie wieder sehen konnte, hatten sich die Wolken verzogen und das kühle Licht des Vollmondes umfloss Lucy, die halb zurückgelehnt ganz allein auf der Bank saß.
Ich beugte mich über sie. Sie schien zu schlafen, dabei aber rang sie nach Luft, als wäre sie dem Ersticken nahe. Im Schlaf bewegte sie die Hand und zog den Kragen ihres Nachthemdes fest um ihre Kehle. Ein leichter Schauer überlief sie, als würde sie frieren. Rasch nahm ich meinen Schal von den Schultern und hüllte Lucy hinein. Ich befürchtete eine tödliche Erkrankung, wenn die nächtliche Kühle Lucys erhitzten Körper angriff. Um den Schal zu befestigen, benutzte ich eine große Sicherheitsnadel. Ich muss mich dabei aber ungeschickt angestellt haben, denn Lucy stöhnte und fasst sich immer wieder an die Kehle, so als hätte ich sie gestochen. Ich zog ihr meine Schuhe an die Füße und versuchte dann, sie vorsichtig zu wecken.
Es dauerte lange, bis Lucys Schaf weniger fest wurde. Ich schüttelte sie, denn ich wollte sie rasch nach Hause bringen. Schließlich öffnete sie die Augen und erwachte. Ohne Zweifel wusste sie nicht, wo sie sich befand und war trotz der unmöglichen und unheimlichen Situation von der ihr eigenen Grazie durchdrungen. Als sie begriff, dass sie sich nahezu unbekleidet auf einem Friedhof befand, riss sie die Augen ängstlich auf und klammerte sich an mich. Behutsam zog ich sie empor und wir traten den Heimweg an.
Wir hatten Glück, denn wir begegneten niemandem, der hätte sehen können, in welchem Zustand Lucy sich befand oder dass ich barfuss war. Ich war in großer Sorge. Nicht nur Lucys Gesundheit lag mir am Herzen, nein - auch ihr Ruf wäre dahin, würde dieses nächtliche Abenteuer bekannt.
Daheim wuschen wir uns gründlich und ich brachte Lucy ins Bett. Sie umklammerte meine Hand und flehte mich an, niemandem etwas zu sagen. Auch ihre Mutter sollte von alle dem nichts erfahren. Ich zögerte, dachte dann aber an den zarten Gesundheitszustand von Lucys Mutter und so versprach ich es eben. Ich verschloss die Tür und trage den Schlüssel um mein Handgelenk. Ich hoffe, dass wir für diese Nacht Ruhe finden werden. Lucy schläft nun tief und fest und ich werde auch versuchen, zur Ruhe zu gehen.
Am gleichen Tage. Mittags. Bisher geht alles gut. Lucy schlief, bis ich sie weckte und ihr scheint der nächtliche Ausflug nicht geschadet zu haben. Sie sieht blühender aus als in den Wochen zuvor. Ich habe sie aber mit der Nadel tatsächlich verletzt. Ich muss ein Stück der zarten Haut ihrer Kehle gefasst und durchstochen haben. Man sieht zwei kleine rote Punkte und auf ihrem Kragen war ein Tropfen Blut. Ich entschuldigte mich herzlich, aber Lucy lachte mich aus. Sie sagte, sie spüre nichts davon und da die Wunden so unbedeutend sind, werden sie keine Narben hinterlassen.
Am gleichen Tage. Nachts. Der Tag war ruhig und glücklich. Wir aßen in Mulgrave Woods und genossen die Sonne und die klare Luft. Am Abend schlenderten wir auf der Kasinoterrasse herum und lauschten der Musik. Wir gingen früh schlafen. Lucy ist ruhiger als die Tage zuvor und ich habe Hoffnung auf eine friedliche Nacht. Natürlich werde ich die Tür wieder sorgfältig verschließen und den Schlüssel an mich nehmen.
12. August. Entgegen meiner Hoffnung war die Nacht unruhig, denn Lucy versuchte zweimal aufzustehen. Sie war ungehalten darüber, dass die Tür verschlossen war und legte sich nur unter Protest wieder ins Bett. Als ich das nächste Mal erwachte, zwitscherten schon die Vögel vor unserem Fenster. Lucy war auch wach und sah frisch und erholt aus. Sie war gleich sehr munter und kam zu mir ins Bett. Sie erzählte von Arthur und ich erzählte ihr von meinen Sorgen um Jonathan. Sie versuchte mich zu trösten und hatte auch einigen Erfolg damit.
13. August. Der Tag war ruhig, die Nacht begann wie gewohnt mit dem Schlüssel um mein Handgelenk. Ich erwachte mitten in der Nacht und fand Lucy in ihrem Bett sitzend auf das Fenster deutend. Ich stand auf und schob den Vorhang zurück. Das Mondlicht lag silbern auf der unsagbar schönen Landschaft und hüllte alles in ein geheimnisvolles Schweigen. Eine große Fledermaus flatterte durch den Garten, kreiste und wirbelte und kam wieder zum Fenster zurück. Einige Male kam sie ganz nah an das Fenster, erschrak dann aber wohl, als sie mich sah und flog quer über den Hafen zur Abtei hinüber. Als ich mich zu Lucy umdrehte, lag diese schon wieder in tiefem Schlummer und rührte sich in der Nacht auch nicht mehr.
14. August. Lucy und ich verbrachten den Tag lesend und schreibend oben auf der Klippe. Lucy hat unseren Lieblingsplatz so ins Herz geschlossen, dass sie gar nicht weggehen mag, weder zum Tee noch zum Abendessen. Aber natürlich mussten wir heimgehen als die Sonne am Horizont unterging und alles in ein rosiges Glühen tauchte. Lucy sah sich das Schauspiel an und murmelte: "Gerade wie seine roten Augen. Gerade so." Ich erschrak über diese seltsamen Worte, die so ohne jeden Zusammenhang gesprochen waren. Vorsichtig schaute ich zu Lucy hinüber und bemerkte, dass sie in eine Art Halbschlaf gefallen war und auf unsere Bank zurück starrte. Ich folgte ihrem Blick und glaubte, jemanden auf unserer Bank sitzen zu sehen, dessen Augen rot leuchteten. Sekunden später zerfloss das Bild. Ich war einer Spiegelung des roten Sonnenlichtes in den Scheiben der Kirche aufgesessen. Ich machte Lucy darauf aufmerksam und sie kam rasch wieder zu sich.
Auf dem Heimweg wirkte Lucy traurig, vielleicht dachte sie an die Nacht oben auf der Klippe. Nach dem Essen hatte Lucy Kopfweh und ging bald zu Bett. Als sie schlief, machte ich mich zu einem kleinen Abendspaziergang auf. Ich ging nach Westen, an den Klippen entlang und sehnte mich nach Jonathan.
Als ich heimkehrte, war unser Haus in helles Licht Mondlicht getaucht. Ich sah zu unserem Fenster hinauf und bemerkte Lucys Kopf dort. Ich nahm an, sie warte auf mich und zog mein Taschentuch hervor, um ihr zu winken. Lucy rührte sich nicht. Ich sah genauer hin und erkannte, dass Lucys Augen geschlossen waren. Sie schlief, mit dem Kopf auf der Fensterbank und neben ihr saß etwas, das wie ein großer Vogel aussah.
Aus Sorge um ihre Gesundheit rannte ich die Treppen zu unserem Zimmer empor. Als ich das Zimmer betrat, kehrte Lucy gerade in ihr Bett zurück, schwer atmend und in tiefstem Schlafe. Wieder hielt sie an Hand an die Kehle gedrückt. Ich weckte sie nicht auf, sondern deckte sie gut zu und verschloss die Tür und das Fenster. Im Schlaf sieht Lucy schön aus, aber sie ist bleich und unter ihren Augen liegt eine harte und tiefe Linie, die mir gar nicht gefällt.
15. August. Obwohl ich heute später aufstand als gewöhnlich, blieb Lucy im Bett, weil sie erschöpft war. Beim Frühstück überraschte uns die Nachricht, dass es Arthurs Vater besser ginge. Arthur lässt uns mitteilen, dass sein Vater wünsche, die Hochzeit bald zu halten. Lucy ist voller Glück. Ihre Mutter aber ist froh und besorgt zu gleich.
Sie ist erfreut, dass Lucy einen Mann gefunden hat, aber gleichzeitig ist sie traurig darüber, dass sie Lucy schon so früh verlieren muss. Außerdem vertraute Frau Westenraa mir an, dass das Todesurteil über sie schon gesprochen ist. Ich darf Lucy nichts davon sagen, aber der Arzt hat Frau Westeraa eröffnet, dass sie innerhalb weniger Monate sterben muss, da ihr Herz immer schwächer werde. Auch jetzt schon kann jeder Schreck, jede Aufregung imstande sein, sie zu töten. Oh, was war es klug von uns, Lucys Mutter nichts von dem nächtlichen Abenteuer auf den Klippen zu erzählen.
17. August. Zwei Tage lang habe ich mich gefürchtet, in mein Tagebuch zu schreiben. Irgendetwas Schreckliches steht uns bevor, es braut sich etwas über uns zusammen, das spüre ich genau. Ich habe keine Nachricht von Jonathan. Lucy wird immer schwächer und die Stunden ihrer Mutter sind gezählt.
Warum nur siecht Lucy so dahin? Sie isst gut, sie schläft gut und ist an der frischen Luft. Aber ihr Gesichtchen wird von Tag zu Tag blasser, sie selbst immer schwächer und schlaffer. Im Schlaf röchelt sie oft, als wollte sie ersticken. Jede Nacht schließe ich unsere Tür ab. Lucy steht trotzdem auf und geht im Zimmer umher. Heute Nacht fand ich sie wieder am offenen Fenster liegend. Ich konnte sie nicht wecken, denn sie war ohnmächtig. Schließlich schaffte ich es, sie wieder ins Leben zu rufen, da weinte sie leise und schien immer wieder nach Luft zu ringen. Ich fragte sie, warum sie denn am offenen Fester sitze. Sie schüttelte aber nur den Kopf und wandte sich von mir ab. Ich brachte sie ins Bett und deckte sie zu. Sie schlief augenblicklich ein und ich untersuchte ihre Kehle. Die Wunden von der Nadel sind immer noch nicht verheilt. Sie sind offen und größer als vorher und an den Rändern weiß. Wenn die Wunden nicht in den nächsten Tagen verheilen, müssen wir wohl einen Arzt aufsuchen.
Brief von Samuel F. Billington & Sohn, Sachwalter, Whitby an Herren Carter, Paterson & Co., London vom 17. August
Meine Herren! Sie empfangen anliegend einen Frachtbrief der Great Northern Railway. Unmittelbar nach Ausladung am Gütebahnhof Kings Cross sind die Güter in Carfax nächst Purfleet, abzuliefern. Da das Haus gegenwärtig leer steht, finden Sie anliegend alle Schlüssel.
Auf beigegebener Skizze können Sie ersehen, wo Sie die bezeichneten Kisten (50 Stück) abladen sollen. Es ist die ehemalige Kapelle des Hauses. Unser Klient wünscht eine baldige Ablieferung, deshalb seien Sie bitte mit Ihren Fuhrwerken pünktlich um 4 Uhr 30 in Kings Cross. Wir fügen einen Scheck über zehn (10) Pfund bei, um allen Verzögerungen vorzubeugen, die durch Anfragen betreffs der Bezahlung entstehen könnten. Sollte das Geld nicht ausreichen, werden wir auf Ihre Benachrichtigung hin den Fehlbetrag sofort per Scheck überweisen. Sollte die Rechnung geringer sein, bitten wir um Rücksendung des überschüssigen Betrages. Bitte lassen Sie den Schlüssel beim Verlassen des Hauses in der Halle zurück. Der Besitzer hat einen Zweitschlüssel. Mit vorzüglicher Hochachtung Samuel Billington & Sohn
Brief von Herren Carter, Paterson & Co., London an die Herren Billington & Co., Whitby
Sehr geehrte Herren! Dankend bestätigen wir den Erhalt von lb.10 und senden - laut anliegender Rechnung - Ihnen den Mehrbetrag über lb.1 17 s.9d. mittels Scheck zurück. Ihrer Anweisung gemäß wurden die Güter abgeliefert und der Schlüssel in einem Paket in der Halle zurückgelassen. Hochachtungsvoll, Carter, Paterson & Co.
Mina Murray Tagebuch
18. August. Wir sitzen auf der Friedhofsbank und es geht uns heute wirklich gut. Lucy ist fröhlich und hat in der letzten Nacht einfach geschlafen, ohne mich zu stören. Sie sieht auch schon wieder viel besser aus, auch wenn sie immer noch etwas blass und elend erscheint. Warum sie so kränkelt, kann ich nicht begriffen, da sie nicht blutarm ist. Immerhin hat sie ihren natürlichen Frohsinn wieder entdeckt und plaudert ungezwungen mit mir, sogar über jene Nacht, in der ich sie hier auf dem Friedhof fand.
Ich träumte und doch auch wieder nicht. Ich wusste, dass ich hierher wollte, obwohl ich mich fürchtete. Ich kann mich erinnern, über die Straße und über die Brücke gelaufen zu sein. Ich hörte Hunde bellen, als wäre die ganze Stadt voll heulender Hunde. Dann erinnere ich mich an etwas Langes. Es war schwarz und hatte rote Augen. Ich fühlte Süße und gleichzeitig unendliche Bitterkeit über mich kommen. In meinen Ohren war ein Singen, wie es die Ertrinkenden wohl vernehmen. Dann schien meine Seele den Körper zu verlassen und ich flog über die Abtei hinweg. Ich fühlte Todesangst und war doch frei. Dann kam ich langsam zu mir und sah, dass du mich schütteltest. Jawohl, ich sah es eher, als dass ich es fühlte.
Sie lachte, aber mir sträubten sich die Nackenhaare. Ich hielt es für unklug, an diesem Thema fest zu halten und so gingen wir zu anderen Themen über. Als wir heimgingen, hatte eine frische Brise Lucys Wangen gerötet und Frau Westeraa schien sehr erfreut, ihre Tochter so wohl anzutreffen.
19. August. Ich könnte singen vor Glück und Freude. Freude, große Freude! Und doch nicht nur Freude, sondern auch Sorge, aber vor allem Freude. Jonathan war krank, deshalb konnte er mir nicht schreiben. Herr Hawkins hat mir den Brief gesandt und so kenne ich nun den Sachverhalt. Morgen schon werde ich abreisen und zu Jonathan fahren. Ich kann mich vielleicht an seiner Pflege beteiligen oder ihn nach Hause holen. Herr Hawkins meint, wir sollten auf jeden Fall sofort heiraten, wenn nötig, dann gleich dort. Der Brief der Krankenschwester hat mich unendlich traurig gemacht. Ich trage ihn an meiner Brust, da kann ich ihn immer fühlen. Mein Gepäck steht bereit, ich muss eilen, denn es kann sein ... aber ich darf nicht weiter schreiben, ich muss es erst Jonathan sagen, meinem Gemahl. Sein Brief tröstet mich, bis ich ihn in den Armen halten darf.
Brief der Schwester Agathe, Joseph- und Marienhospital, Budapest an Fräulein Mina Murray
12. August. Wertes Fräulein! Auf Wunsch des Herren Jonathan Harker schreibe ich Ihnen diesen Brief, da er noch nicht wieder stark genug ist, es selbst zu tun. Wir pflegen Herrn Harker nun seit etwa sechs Wochen in unserem Hospital. Er litt an einer schweren Hirnhautentzündung. Herr Harker lässt Sie grüßen und Ihnen mitteilen, dass mit der gleichen Post ein Brief an Herrn Hawkins ergeht, in dem er um Entschuldigung für sein langes Ausbleiben bittet und mitteilt, dass sein Auftrag ausgeführt ist.
Er bittet aber noch um einige Wochen Urlaub, um sich hier im Hospital erholen zu können. Er lässt auch mitteilen, dass er nicht genug Geld bei sich hat, um seinen Aufenthalt im Hospital zu bezahlen. Mit vielen Grüßen und warmen Segenswünschen Ihre Schwester Agathe
P.S. Da der Patient schläft, öffne ich den Brief noch einmal, um Ihnen einiges mitzuteilen. Wie Herr Harker mir berichtete, werden Sie bald die Seine sein. Alles Gute für die Zukunft. Herr Harker hat einen schweren Schock erlitten. Er hatte grässliche Fieberphantasien von Werwölfen, Blut, Gift, Dämonen und Gespenstern. Ich fürchte mich zu sagen, wovon er noch phantasierte!
Seien Sie immer lieb und gut zu ihm; keine Aufregung sollte an ihn herankommen. Gern hätten wir eher geschrieben, aber wir wussten nicht an wen und wohin. Herr Harker hatte nichts bei sich. Wir wussten nur, dass er mit dem Zug aus Klausenburg gekommen war und auf dem Bahnhof laut nach einem Billett nach Hause geschrieen hat. Man erkannte in ihm den Engländer und gab ihm ein Billet, so weit der Zug ging.
Seien Sie unbesorgt. Herr Harker ist hier in guten Händen. Es geht ihm schon viel besser und ohne Zweifel wird er in ein paar Wochen genesen sein. Seien Sie trotzdem vorsichtig.
Dr. Sewards Tagebuch
19. August. Renfield gibt sich wieder interessant. Gestern Abend gegen acht begann er, wie ein Hund zu schnüffeln. Der Wärter, der von meinem Interesse an Renfield weiß, ermunterte ihn, zu sprechen. Aber Renfield - normalerweise höflich und bisweilen unterwürfig - zeigte sich überaus anmaßend und ließ sich nicht zu einem Gespräch mit dem Wärter herab. "Der Meister ist nahe." Verkündete er immer wieder. Hat er nun eine religiöse Wahnidee? Wenn es so wäre, dürften wir uns auf etwas gefasst machen. Mordmanie und religiöser Wahnsinn sind in der Kombination unheimlich.
Ich besuchte ihn Renfield persönlich gegen neun. Und wirklich, sein Größenwahn kennt keine Grenzen. Bald wird er sich einbilden, selbst Gott zu sein. Er steigerte sich immer mehr in diese Erregung hinein und ich passte scharf auf. Da überkam ihn plötzlich dieser seltsame Gesichtsausdruck, den Irre haben, wenn sie auf eine Idee kommen. Seine Haltung wurde charakteristisch. Jeder Irrenwärter kennt sie. Er hockte sich auf den Bettrand, wurde ganz ruhig und starrte mit glanzlosen Augen ins Leere. War die Apathie gespielt oder echt?
Ich versuchte, ihn in ein Gespräch über seine Haustiere zu verwickeln. Das hatte bisher nie seinen Zweck verfehlt. Aber Renfield antwortete nur mürrisch: "Zum Henker. Was kümmert mich das alles?" "Sie werden sich doch wohl immer noch um ihre Spinnen kümmern?", fragte ich ihn. Da antwortete er mir höchst rätselhaft: "Die Brautjungfern erfreuen die Augen, die auf die Ankunft der Braut warten. Wenn die Braut sich aber nähert, können die mit Tränen gefüllten Augen der Brautjungfern ihr Strahlen nicht sehen."
Er wollte nichts weiter sagen und blieb stumm auf seinem Bettrand sitzen. Ich bin müde und verstimmt. Immerzu muss ich an Lucy denken. Wenn ich nicht bald schlafe, muss ich zum Chloral greifen, moderner Morpheus C2HCl3O.H2O! Oder lieber nicht, sonst wird es noch zur Gewohnheit. Wenn sich der Schlaf nicht einstellt, dann bleibe ich eben wach.
Wie froh war ich nur kurze Zeit später, dass ich kein Chloral genommen hatte. Die Glocke hatte eben zwei geschlagen, als der Wärter erschien und mir mitteilte, dass Renfield entflohen sei. Ich sprang in meine Kleider und eilte hinunter. Renfield war gefährlich, dessen war ich mir sicher. Der Wärter erklärte, Renfield sei durch das Fenster geflohen.
Ich nahm seine Verfolgung auf, denn der Wärter hatte ihn durch das Fenster nach links laufen sehen. Im Gegensatz zu dem Wärter bin ich mager und konnte denselben Weg nehmen wie Renfield. Ich rannte so schnell ich konnte in die angegebene Richtung. Ich war noch nicht weit gelaufen, als ich eine weiße Gestalt die Mauer überklettern sah, die mein Grundstück von dem Nachbargrundstück trennt.
Ich rannte zurück und rief einige Wärter zu Hilfe. Sie folgten mir nach Carfax für den Fall, dass Renfield gewalttätig werden würde. Mit Hilfe einer Leiter überkletterte ich die Mauer und sprang auf der anderen Seite hinunter. Gerade noch sah ich Renfield hinter der Hausecke verschwinden. Ich eilte ihm nach und sah dann, wie er sich an das alte, eisenbeschlagene Tor der ehemaligen Kapelle presste.
Renfield sprach offenbar mit jemandem, ich konnte aber nicht verstehen, was er sagte. Ich wollte ihn nicht erschrecken, denn einen nackten Narren einzufangen ist schwieriger als man glaubt. Wir näherten uns also langsam und vorsichtig. Erst als auch die anderen Wärter zur Stelle waren, war ich so dicht an Renfield herangetreten, dass ich die Worte verstehen konnte. "Ich werde treu sein, Meister. Ich bin euer Sklave und ihr werdet mich belohnen. Aus der Ferne habe ich euch lange verehrt. Nun seid Ihr nahe und ich erwarte Eure befehle. Wenn Ihr die Dinge verteilt, werdet ihr mich nicht übergehen, mein Meister?"
Er bettelte. Fürwahr sind seine Wahnideen eine seltsame Kombination. Als wir ihn festnahmen, wehrte er sich wie ein Tiger. Wie gut, dass wir ihn überwältigen konnten, denn mit seiner Entschlossenheit und seiner Kraft, hätte er Schlimmes anrichten können. Wir legten ihm eine Zwangsjacke an und ketteten ihn anschließend in der Gummizelle fest.
Sein Gebrüll ist schlimm, schlimmer noch die Pausen dazwischen. Die Mordlust steht ihm ins Gesicht geschrieben. Seine Worte hallen durch das Haus. "Ich werde mich gedulden, Meister. Ich weiß dass es kommt. Es kommt. Es kommt!"