Mina Murrays Tagebuch
24. Mai Whitby. Lucy, süßer und lieblicher als je, holte mich vom Bahnhof ab. Wir fuhren in das Haus am Crescent, in dem sie Zimmer bewohnen. Ein wirklich reizendes Fleckchen Erde. Das Tal ist grün und tief eingeschnitten, man kann von den Hängen aus nicht herunter sehen. Auf der anderen Seite liegt die alte Stadt mit ihren übereinander geschachtelten Häusern, die alle mit roten Ziegeln gedeckt sind. Gerade über der Stadt liegt die Ruine der Abtei Whitby, eine sehr schöne Ruine voll von romantischen Plätzen. Es geht die Sage, dass sich in den Fenstern öfter eine weiße Frau sehen lasse. Zwischen dem Kloster und der Stadt befindet sich noch eine Pfarrkirche, die inmitten eines großen Friedhofes liegt. Es ist ein wirklich reizender Fleck, denn er liegt direkt über der Stadt und von dort aus kann man den Hafen und die Bucht sehr gut überblicken. Spazierwege mit Bänken führen zu beiden Seiten über den Friedhof und den ganzen Tag sitzen hier Leute und genießen die herrliche Aussicht.
Wegen der schönen Aussicht sitze ich nun auch hier und schreibe. Ich schaue auf den Hafen hinunter und auf den Leuchtturm. Auch die Boje kann ich sehen, deren Glocke bei hoher See anschlägt und klagende Töne in den Wind schickt. Man erzählt sich, dass man die Glocke auf offener See hören kann, wenn ein Schiff verloren ist. Ich muss den alten Mann fragen, der des Weges kommt, ob das wirklich so ist.
Der Mann muss furchtbar alt sein, denn sein Gesicht ist durchfurcht. Er erzählt mir, dass er nahe an Hundert sei. Matrose ei er gewesen in der Grönländischen Fischerflotte. Als ich ihn über die weiße Frau und die Glocke befrage, antwortet er skeptisch. "Das sind alles alte Geschichten, Fräulein. Solange ich mich erinnern kann, waren diese Geschichten hier nicht. Vielleicht waren sie früher einmal da." Ich dachte, dass ich von diesem knorrigen alten Mann allerlei Interessantes erfahren könnte und bat ihn, mir von der Walfischfängerei zu erzählen. Er wollte eben damit anfangen, als es sechs schlug. Der alte Mann stand sofort auf und sagte. "Verzeihung, Fräulein, aber ich muss wieder heim. Mein Enkelkind hat es nicht gern, wenn ich es warten lasse. Und bis ich die Stufen da hinunter komme, dauert es seine Zeit." Mit diesen Worten humpelte er davon.
Ich sah ihm nach, wie er - so gut es ging - die Stufen hinunter kletterte. Die Treppe ist charakteristisch für den Ort. Hunderte von Stufen führen von der Stadt hinauf zur Kirche. Aber jetzt muss auch ich heimgehen. Lucy und ihre Mutter werden sicher schon auf mich warten.
1. August. Lucy und ich hatten ein interessantes Gespräch mit meinem alten Freund und den zwei anderen, die immer mit ihm kommen. Er muss eine wirkliche Persönlichkeit gewesen sein und die beiden anderen folgen ihm immer noch treu. Immerzu streitet er. Lucy sieht süß aus, sie hat etwas Farbe bekommen und die alten Männer finden sie wohl sehr hübsch, denn sie wollen gerne neben ihr sitzen. Ich brachte das Thema auf Sagen und mein Freund begann sich zu echauffieren: "Alles Unsinn, alles, Hexen, Kobolde, Gespenster, Teufel, alles Unsinn. Nichts als dummes Zeug. Aber schlimmer noch, als dass sie diese Lügen in Zeitungen schreiben und von der Kanzel herunter predigen, ist, dass sie diese Lügen auch auf die Grabsteine schreiben."
Ich verstand nicht, worauf er hinaus wollte und sagte, um ihn zum Weiterreden zu veranlassen: "Herr Swales, Sie wollen doch nicht im Ernst behaupten, dass alle diese Grabsteine falsch sind?" Ungeduldig schüttelte er den Kopf: "Nur wenige werden darunter sein, die nicht falsch sind. Die meisten sind schlicht leer, wie unseres alten Dun's Tabakdose am Freitag. Wie sollte es auch anders sein? Sehen Sie her: Edward Spencelagh, ermordet an der Küste von St. Andreas im April 1884." "Und?", fragte ich. "Wer brachte ihn wohl heim, wenn er von Piraten ermordet wurde?" "Und so ist es bei vielen diesen Gräbern." Lucy gab dem Gespräch eine neue Wendung, in dem sie einwarf: "Oh, wie schade, dass Sie mir das erzählt haben. Es ist doch mein Lieblingsplatz und ich kann ihn nicht aufgeben." "Das darf Sie nicht stören, Herzchen. Aber meine Zeit ist um und ich muss gehen. Ich empfehle mich." Er stand auf und humpelte davon.
Lucy und ich blieben noch eine Weile sitzen und Lucy erzählte mir von Arthur und ihren Hochzeitsplänen. Mir fiel dieses Gespräch schwer, denn ich hatte schon einen ganzen Monat nichts mehr von Jonathan gehört.
Am gleichen Tag. - Jetzt bin ich allein hier oben. Ich bin enttäuscht, denn es war kein Brief für mich dabei. Es hat eben neun geschlagen und langsam flammen die Lichter der Stadt auf. Hoffentlich geht es Jonathan gut. Wo ist er wohl? Denkt er an mich? Ich wollte, er wäre hier.
Dr. Seward Tagebuch
5. Juni. Selbstgefühl, Verschlossenheit und Zielbewusstsein, das sind die stark entwickelten Eigenschaften von Herrn Renfield. Ich weiß nur nicht, was sein Ziel ist. Der Fall wird aber immer interessanter! Renfield scheint ein ganz bestimmtes Schema zu haben, nur was er damit will, konnte ich noch nicht ergründen. Er liebt Tiere, geht aber manchmal so mit ihnen um, dass ich eine besonders grausame Ader vermuten möchte. Gegenwärtig sammelt er Fliegen. Er hat so viele, dass ich ihn bat, sie wegzuschaffen. Er fragte mit erster Mine, ob er drei Tage Zeit dafür erhalten könne, dann seien die Fliegen fort. Ich sagte, dass sei in Ordnung. Ich werde ihn scharf beobachten.
18. Juni. Renfield hat die Fliegen an Spinnen verfüttert, die er nun in einer Schachtel gefangen hält.
1. Juli. Herrn Renfields Spinnen werden nun genauso wie zuvor seine Fliegen zu einer Plage. Als ich ihm sagte, er müsse die Spinnen abschaffen, wurde er sehr traurig. Ich sagte ihm, dass er wenigstens einige davon frei lassen müsse. Er beruhigte sich und ich setzte ihm denselben Termin wie für die Fliegen. In diesem Moment flog eine Fliege herein, die von ihrer aasigen Nahrung aufgebläht war und laut brummte. Herr Renfield fing sie, hielt sie einen Moment zwischen Daumen und Zeigefinger und dann verspeiste er sie. Ich empfand tiefen Ekel und großen Widerwillen, Herr Renfield aber erklärte, Fliegen seien schmackhaft und heilkräftig. Es sei blühendes Leben und gebe auch ihm wieder neue Kraft. Ich muss zusehen, wie er der Spinnen Herr wird. Er hat ein offensichtlich ein tiefes Problem im Kopf. In seinem Notizbuch finden sich ganze Seiten voll von Zeichen, Zahlen in Kolonnen und deren Summe wieder als Kolonnen, als wäre er einem statistischen Problem auf der Spur.
8. Juli. Ich bin sicher, dass in seinem Wahnsinn Methode steckt. Ich habe eine noch nebelhafte Vorstellung in meinem Kopf, die hoffentlich bald Gestalt annehmen wird. Ich hielt mich einige Tage von Herrn Renfield fern. Nur so kann ich bemerken, ob irgendeine Änderung stattgefunden hat. Alles ist beim Alten geblieben. Nur hat er die Spinnen gegen einen Sperling ersetzt, den er mit Mühe fangen konnte. Er ist dabei, den Sperling zu dressieren. Die Spinnen sind weniger geworden, sie sind aber gut genährt, da er sie immer noch Fliegen füttert.
19. Juli. Nun hat Herr Renfield eine ganze Sperlingskolonne. Fliegen und Spinnen werden weniger. Als ich ihn besuchte, rannte er auf mich zu, schmiegte sich an mich und bat darum, ein kleines Kätzchen zu bekommen. Fast war ich auf eine solche Bitte vorbereitet, konnte man doch sehen, dass seine Wünsche an Größe und Lebhaftigkeit zu nehmen. Ich wollte nicht, dass die Sperlingsfamilie den gleichen Tod starb wie zuvor die Fliegen und Spinnen und fragte ihn. "Wollt Ihr nicht vielleicht lieber eine Katze?" "O ja, gern möchte ich eine Katze. Aber ich dachte, ich bitte zuerst um ein Kätzchen, denn so ein Kätzchen kann mir doch niemand verwehren." Ich schüttelte den Kopf und sagte ihm, dass eine Katze im Moment nicht in Frage käme. Sein Gesicht zuckte drohend und gefährlich. Er warf mir einen Blick zu, der mich hätte töten können. Ich bin sicher, dass der Mann mit einer Mordmanie behaftet ist. Als ich ihn später an diesem Tag noch einmal aufsuchte, warf er sich auf Knie und flehte um eine Katze. Aber ich blieb fest und ließ ihn an seinen Fingern nagend zurück.
20. Juli. Als ich Herrn Renfield heute noch vor den Wärtern besuchte, hatte er gute Laune. Er streute gerade am Fenster seinen Zucker aus - Köder für die Fliegen. Seine Vögel konnte ich nirgends entdecken. Als ich ihn danach fragte, sagte er, die Vögel seien alle entflogen. Ich sah einzelne Federn im Zimmer herumfliegen und einen Tropfen Blut auf seinem Kopfkissen. Ich sagte aber nichts weiter und ging. Die Wärter wies ich an, besondere Vorkommnisse sofort zu melden.
Später. - Eben war ein Wärter hier. Herr Renfield ist sehr krank. Er hat eine Menge Federn erbrochen. Der Wärter glaubt, dass Herr Renfield seine Vögel gefressen hat. Mit Federn und völlig roh. Ehrlich gesagt, glaube ich das auch!
Abends. - Abends gab ich Herrn Renfield ein starkes Schlafmittel. Als er eingeschlafen war, untersuchte ich sein Notizbuch. Ich fand meine Vermutung bestätigt, dass es sich hier um einen Mordsüchtigen der besonderen Art handelt. Er hat vor, sich so viel Leben einzuverleiben, als irgendwie möglich. Ich muss eine neue Klassifikation für ihn erfinden. Ich werde ihn Zoophage benennen, weil er ein Fresser von lebenden Wesen ist. Fast wäre ich geneigt, ihn das Experiment weiter führen zu lassen. Wenn eine Katze die Sperlinge gefressen hätte, wie wäre es weiter gegangen?
Es ist erschreckend, wie klar der Mensch denkt. Obwohl das viele Irre innerhalb ihres Wahnsinns tun. Wie viele Leben ihm wohl ein Mensch wert ist? Seine Berechnungen sind ganz gewissenhaft abgeschlossen und heute hat er mit neuen begonnen. Welcher Mensch legt sich am Ende des Tages Rechenschaft über alles ab?
Mir kommt mein Leben in den Sinn, dass seit Lucys Ablehnung leerer ist als zuvor. Oh Lucy, ich kann dir nicht böse sein und auch Arthur nicht, der mein Freund und gleichzeitig der Glückliche ist, der dich besitzen wird. Für mich heißt es jetzt Arbeit! Arbeit! Eine Wohltat wäre mir, wenn ich - wie der wahnsinnige Herr Renfield - einen so starken Antrieb zur Arbeit hätte!
Mina Murrays Tagebuch
26. Juli. Wie gut, dass ich mein Tagebuch habe, so kann ich mich wenigstens ein wenig aussprechen. Ich bin sehr in Sorge wegen Jonathan und wegen Lucy. Von Herrn Hawkins, dem ich einen Brief geschrieben hatte, ob er nicht etwas von Jonathan gehört habe, erhielt ich einen netten Brief. Er schrieb, die Beilage habe er soeben erhalten. Es war eine Nachricht von Jonathan, nur eine Zeile lang. Sie besagt, dass er gerade im Begriff sei, abzureisen. Sonst nichts. Das sieht Jonathan gar nicht ähnlich. Und zu allem Überfluss hat Lucy ihre alte Angewohnheit des Schlafwandels wieder aufgenommen. Ich habe mit ihrer Mutter ausgemacht, dass ich jede Nacht die Türe zu unserem Zimmer verschließe und den Schlüssel an mich nehme. Wir haben Angst, das Lucy sich - wie viele Schlafwandler - plötzlich auf einem Dachfirst oder einem Klippenrand wieder findet, wenn sie aufwacht und dann abstürzt. Ich weiß, dass Lucys Vater dieselbe Angewohnheit hatte.
Nichts desto trotz macht Lucy viele Pläne. Wir sprechen viel über die Hochzeit, über Kleider und über die Hauseinrichtung. Mir macht das alles natürlich auch viel Spaß, war ich doch mit Jonathan in derselben Lage, wenn wir uns allerdings mehr nach der Decke strecken mussten als Lucy und Arthur. Lucy zählt die Minuten bis Arthurs bei ihr sein kann, der einzige Sohn des Lords Godalming muss allerdings bei seinem Vater weilen, dem es nicht besonders gut geht. Fast möchte ich glauben, es ist das Warten, was ihr so zusetzt. Es wird ihr besser gehen, wenn Arthur erst hier ist.
27. Juli. Ich sorge mich sehr um Jonathan, habe ich doch immer noch keine Nachricht von ihm. Während ich mir sehnlichst wünsche, dass Jonathan schreiben möge, schlafwandelt Lucy schlimmer als je zuvor. Ich bin schon selber ganz nervös und verstört durch die mangelnde Nachtruhe und die Sorgen um meine liebe Freundin, der es allen Umständen zum Trotz ein wenig besser zu gehen scheint.
3. August. Niemand hat etwas von Jonathan gehört und es ist schon wieder eine Woche ins Land gegangen. Immer wieder schaue ich die kurzen Zeilen an und kann es nicht verstehen. Obwohl es seine Handschrift ist, ist das so gar nicht seine Art zu schreiben. Lucy scheint angespannt und ich weiß nicht, warum. Sie war weniger somnabul, versucht aber auch im Schlaf jede Tür zu öffnen, die sie verschlossen findet.
6. August. Bald kann ich das Warten nicht mehr ertragen. Ich weiß nicht, wohin ich mich wenden soll. Wer hat Jonathan gesehen? Ich muss mich mit Geduld wappnen, zumal Lucy erregter als gewöhnlich ist. Die Fischer sagen Sturm voraus und während ich dies schreibe, haben wir hier oben einen grauen Himmel und eine hohe, in Wolken gehüllte Sonne. Alles ist grau, die Felsen, die Wolken, das Wasser, das brüllend über die Untiefen und Sandbänke brandet. Dunkle Gestalten huschen vereinzelt über den Strand und die Fischerboote streben heimwärts.
Da kommt der alte Swales, in dem eine Veränderung vorgegangen zu sein scheint. Er nimmt seinen Hut ab und spricht mich an: "Es tut mir leid, falls ich Sie in den letzten Wochen mit meinem Gerede über die Toten und Ähnliches gekränkt habe. Ich habe es nicht so gemeint. Aber wir Alten stehen ja sowieso mit einem Fuß im Grab und lieben es nicht daran zu denken. Ich aber fürchte den Tod nicht; zwar möchte ich nicht gern sterben, aber den Tod fürchte ich nicht. Das Leben ist doch schließlich nichts anderes als ein Warten auf etwas, was man gerade nicht hat. Nur auf den Tod können wir uns unbedingt verlassen. Und weinen Sie nicht, mein Fräulein", er sah, dass ich weinte, "wenn ich heute Nacht abberufen werde, bin ich zufrieden. Vielleicht kommt er mit dem Wind, weit draußen über der See."
Er starrte in die eisgrauen Wellen. Plötzlich hob er den Arm und rief: "Schauen Sie! Dort! Etwas ist in dem Wind, das aussieht und riecht wie der Tod. Ich fühle ihn kommen. Oh Herr, ich werde fröhlich antworten, wenn du mich rufst." Er nahm seinen Hut ab und stand still mit erhobenen Armen. Schließlich reichte er mir die Hand und humpelte davon. Er ließ mich tief berührt und sehr ängstlich zurück.
Ich war erleichtert, als der Küstenwart auf mich zukam. "Sehen Sie", sagte er dort. "Dort draußen ist ein Schiff, aber ich kann nicht erkennen ob es ein Russe ist. Es wird wie wahnsinnig hin und her geworfen. Offensichtlich weiß der Kapitän sich nicht zu helfen. Sieht er denn den Sturm nicht kommen? Warum läuft er nicht den Hafen an oder geht nordwärts? Fast sieht es aus, als wäre das Schiff führerlos. Ich bin sicher, vor morgen werden wir davon noch mehr erfahren.