Theater ist so erbaulich. Was aber wenn es der Gesellschaft den Spiegel vorhält? Dann wird es natürlich angefeindet. So auch der Sigmund Freud unter den Autoren. Verbittert verbietet Schnitzler weitere Aufführungen des "Reigen". Autor: Ulrich Trebbin
"Kinder, nehmt die Hand auf den Tisch!", so tönt es hierzulande oft beim Mittagessen, wenn die linke eines Sprösslings sich gerade mal wieder selbständig gemacht hat. Beim Schüleraustausch in England kann derselbe Jugendliche aber erleben, dass die Hand dortzulande unter den Tisch beordert wird. Das mehrt den Erfahrungsschatz natürlich um die Lehre, dass in anderen Ländern eben andere Sitten herrschen, es kann aber auch grundsätzliche Zweifel daran nähren, dass gesellschaftliche Konventionen so ernst zu nehmen und die drohenden Sanktionen so berechtigt seien, wie die Erwachsenenwelt es glauben machen möchte.
O tempora, o mores!
Auch moralische Vorstellungen sind wandelbar wie ein Chamäleon: Ging in den Kinos der Achtziger Jahre noch ein Aufschrei durchs Publikum, wenn auf der Leinwand ein hüllenloser Liebesakt zu sehen war oder - Gott bewahre! - sich zwei Männer küssten, so stößt die Mehrheit sich daran heute nicht mehr. Jede Zeit hat eben ihre Tabus. Unddementsprechend ihre Skandale: Denn Autoren spießen Tabus liebend gerne mit ihrer Feder auf, um der bornierten Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten und dazu beizutragen, die Tabu-Festungen zu schleifen.
Einen der größten Theaterskandale hat der Wiener Arzt und Schriftsteller Arthur Schnitzler verursacht: Am 23. Dezember 1920 erlebte nämlich sein Stück "Reigen" in Berlin die Uraufführung - trotz Verbot und angedrohter sechswöchiger Gefängnisstrafe. Schließlich handelt das Stück von zehn flüchtigen sexuellen Begegnungen! Erst schläft die Dirne mit dem Soldaten, dann verführt der das Stubenmädchen, das wiederum lässt sich von seinem jungen Herrn beschlafen, der pimpert eine verheiratete Frau, bis sich am Ende ein Graf mit der Dirne aus der ersten Szene in der Horizontalen ergötzt. Es geht quer durch alle Gesellschaftsschichten, Liebe und Ehe spielen nicht mal Nebenrollen, im Vordergrund steht das Animalische - und das meist auf wenig sympathische Art und Weise. Der Akt selbst ist wohlgemerkt nie zu sehen.
Die Zeitgenossen in Berlin, München oder Wien haben sich in diesen lieblosen Liebeleien wohl nur allzu gut wiedererkannt, wollten das aber nicht wahrhaben oder gar zugeben. Also fliegen Stinkbomben auf die Bühne, Kampagnen werden angezettelt, hunderte Demonstranten stürmen das Wiener Theater und zerlegen das Mobiliar, Kritiker nennen Schnitzler einen "Pornografen" und "jüdischen Schweineliteraten", es hagelt Verbote, Abgeordnete prügeln sich, und in Berlin kommt es sogar zu einem Prozess, bei dem die Angeklagten dann wenigstens freigesprochen werden.
Ein genialer Schmutzfink
Immerhin gibt es auch anerkennende Kritik. Hugo von Hofmannsthal schreibt - wohl augenzwinkernd - an Schnitzler: "Schließlich ist es ja Ihr bestes Buch, Sie Schmutzfink!"Und der angesehene Kritiker Alfred Kerr urteilt nach der Uraufführung: "Es wird auf die Dauer zu fad, von allen wichtigsten Begleitumständen der menschlichen Fortpflanzung sich tot zu stellen; sich dumm zu stellen." Trotzdem ist Arthur Schnitzler am Ende schwer enttäuscht von seinem verlogenen und antisemitischen Publikum und unterbindet weitere Aufführungen des "Reigen". Erst seit 1982 darf das Stück wieder gegeben werden.