Andere Zeiten, andere Sitten: Während man heute hollywoodgewandt formuliert: "Sex sells", waren dereinst die alten Preußen da ganz anderer Auffassung. Autorin: Birgit Magiera
"Die animalischen Zustände und Bedürfnisse müssen im Zaum gehalten, die Triebe in die Unterwerfung gezwungen werden. Dabei soll der Sexualkundeunterricht helfen". Das bestimmt die Obrigkeit vor über hundert Jahren: am 2. September 1900 veröffentlicht das preußische Schul-Ministerium einen Erlass. Darin werden die Lehrer an staatlichen Schulen aufgefordert, Aufklärungsunterricht abzuhalten, eine Premiere im deutschen Kaiserreich.
Die Jugend soll besser geschützt werden vor Geschlechtskrankheiten und unsittlichem Verhalten. Reinheit und Unschuld gilt es so lange wie möglich zu bewahren. Vor allem auch vor den Lüsten wider die Natur, die körperliche Schäden und seelische Verwüstungen anrichten können. Nach gängiger damaliger Lehrmeinung führt die Selbstbefleckung zu Hirnerweichung und Rückenmarkschwund. Zur Therapie bleiben die Hände über der Bettdecke!
Über Tage bleiben
Besondere Gefahren sehen Pädagogen und Staatsdiener in den durch die Industrialisierung schnell wachsenden Städten: an den Straßenecken lauern die Huren, in den Hinterhöfen der Tripper. Sexualunterricht in Schulen um 1900 soll nicht die Entwicklung der Jungen und Mädchen unterstützen, sondern helfen, gesellschaftliche Probleme in den Griff zu bekommen.
Das deutsche Kaiserreich bevormundet nicht nur seine jugendlichen Untertanen. Ebenfalls im Jahr 1900 wird die sogenannte Lex Heinze erlassen: ein Gesetz zur Wahrung der Sittlichkeit, auf Initiative des Kaisers persönlich. Der vorbestrafte Berliner Zuhälter Gotthilf Heinze steht für alles, was im damaligen Sinne als unsittlich gilt. Mit dem neuen Paragrafen im Reichsstrafgesetzbuch sollen öffentliche Darstellungen unsittlicher Handlungen zensiert werden. Alles, was das allgemeine Schamgefühl verletzen könnte, steht unter Strafandrohung. In München muss daraufhin der berühmte Künstler Franz von Stuck die Figur einer nackten Amazone aus seinem Vorgarten entfernen.
Und in der Satirezeitschrift "Simplicissimus" wird darüber gewitzelt, welche Unterhosen man den griechischen Statuen in der Antikensammlung anziehen könnte.
Baden mit und ohne
In den folgenden Jahrzehnten wechseln sich sexuell freizügige und strengere Zeiten ab:
Das Berlin der wilden 20er Jahre feiert ungezügelte Lebens- und Liebeslust auf Transvestitenbällen und in schwul-lesbischen Nachtclubs. Unter den Nationalsozialisten soll die Jugend dann ausschließlich zum Zweck der rassisch korrekten Fortpflanzung kopulieren.
Auf eine unübersichtliche Nachkriegszeit mit Männermangel und fremden Besatzungssoldaten folgen die prüden 50er Jahre: radikale Konservative zünden Kondomautomaten an und werfen Stinkbomben vor Kinos, in denen der Film "Die Sünderin" läuft - mit einer nackten Hildegard Knef auf der Leinwand - Skandal.
Die sexuelle Revolution der 60er Jahre trägt ihren Namen zu Recht. Und seit Ende der 70er hat jedes Schulkind in Bayern ein Anrecht auf Sexualerziehung. Die entsprechende Leitlinie des Kultusministeriums sieht vor, dass "die Kinder und Jugendlichen darin unterstützt werden, ihre eigene Geschlechtlichkeit anzunehmen und zu bejahen".
Über hundert Jahre nach Einführung des ersten Aufklärungsunterrichts klingt das deutlich entspannter als die "zu unterwerfenden animalischen Triebe" aus den Vorgaben vom
2. September 1900.